Ein Blick wie ein Spiegel

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Kapitel 46:

Dein Blick ist, so verwandelt, mir ein Spiegel,

der mir den meinen auch verwandelt zeigt." - William Shakespeare

Das Glöckchen der Eingangstür bimmelte vertraut fröhlich, als jemand den Verkaufsraum der Bäckerei betrat, binnen Sekunden huschte mein Blick nach oben, nur um sich dann einmal im Uhrzeigersinn zu drehen und wieder auf meine Notizen zu fallen.

Es war nicht Florian gewesen, der eben hereingekommen war, genau gesagt, war er es seit exakt sechsunddreißig Minuten nicht, die er mich inzwischen warten ließ.

Langsam fragte ich mich, ob er mich schlichtweg einfach vergessen hatte.

So wie sein Wissen um meine Existenz beim Essen mit seinen Eltern einer plötzlichen Amnesie zum Opfer gefallen war. Na gut, das klang vielleicht, situativ betrachtet, etwas zu verbittert und doch, je weiter die Zeit voranschritt, desto penetranter setzte sich dieser kleine, äußerst fiese Gedanke in mir fest: 'Hätte ich früher genauso darauf reagiert, wie ich es jetzt tat?'.

Und mit jeder weiteren Minute, die Florian nicht auftauchte, wusste ich, dass die Antwort 'Nein' lautete.

Vermutlich hätte ich mir noch einige Tage zuvor Sorgen gemacht über irgendwelche zusammenphantasierte Verschwörungstheorien gegen meine Person und Hirngespinster, mit denen mein verliebtes, vierzehnjähriges Ich den rationalen Verstand meines achtzehnjährigen Selbst lahmgelegt hatte und in einer gesundheitsgefährdenden Hysterie gipfelte, was objektiv reflektiert ja offenbar die Standardreaktion von meinem Hirn auf generell alle Dinge, die auch nur im Entferntesten mit Florian in Verbindung standen, war. Schämenswerterweise.

Und jetzt? Jetzt saß ich in der hintersten Ecke von Heikos Bäckerei und strafte den Tisch vor mir mit vernichtenden Blicken, ich war sauer,einfach nur richtig sauer auf Florian. War ich das bis dato überhaupt irgendwann einmal gewesen? Höchstens verletzt oder in die Engegetrieben und dementsprechend fuchtig in meinem Auftreten. Aber sauer, angepisst? Nie.
Eigentlich war ich immer bloß automatisch sauer auf mich selbst gewesen.
Der Floh, den mir Em gestern noch spät abends ins Ohr gesetzt hatte, trug auch nicht gerade zur Entspannung der Gesamtsituation bei.
„Redet ihr überhaupt mal miteinander Mel?",ihr aufgedrehtes Lachen und der übertrieben anzügliche Ton huschten immer noch in meinem Kopf umher und machten es schier unmöglich, mich auch nur im Ansatz auf die Übungsaufgaben, die mir die Gräfe aufs Auge gedrückt hatte, zu konzentrieren. Emelies Kommentar über meine an Türklinken hängende Unterwäsche hatte ich während unseres Telefonats gar nicht richtig für voll genommen, obwohl dieser sonst mindestens ein genervtes Brummen und Augenrollen meinerseits provozierte. Natürlich war ihr das nicht entgangen, alles andere wäre für meine beste Freundin auch komisch gewesen. Irgendwie hatte ich es trotzdem geschafft mich, auf ihr Nachhaken hin, mit einem schelmischen Grinsen und der sensationellen Ankündigung, mich noch mit dem Prüfungsstoff auseinandersetzen zu wollen, aus der Affäre zu ziehen. Schließlich galt es jedes lernmotivierte Verhalten, was sich bei mir ungefähr so selten äußerte, wie eine totale Sonnenfinsternis auftrat und auch gefühltso lange anhielt, zu unterstützen und der heiße Gastbruder kam mir wohl zusätzlich zugute.
Hätte Em nur eine leise Ahnung davon, welche Lawine ihre harmlose Bemerkung bei mir ausgelöst hatte, würde sie sicherlich postwendend die nächste Krisenintervention veranstalten oder sich gleich zur Paartherapeutin ernennen.
Es war ja nicht so, dass Florian und ich gar nicht redeten, nur eben nicht mehr wirklich miteinander(?). Sondern entweder über Belangloses oder eben aneinander vorbei.
Geistesabwesend raffte ich meine Bücher und Zettel zusammen, ich hatte keine Lust und vor allem keinen Nerv mehr auf meinen Freund zu warten, sollte er doch zu sehen, wo er blieb.
Kritisch beäugte Heiko mich über die Ladentheke hinweg, während er frische Brötchen auffüllte und ich mittlerweile dazu übergegangen war, alles nur noch unachtsam in meine Tasche zu stopfen. „Willst du wirklich schon los Melli? Ich dachte, du bist mit deinem Florian verabredet?", entnervt vor mich hin seufzend registrierte ich den väterlich-besorgten Ton, den er angeschlagen hatte. Das hatte mir ja gerade noch gefehlt! Mein Florian ... wenn er das überhaupt jemals gewesen war. Ich schluckte den bitteren Geschmack, der mir bei diesem Gedanken aufgestoßen war herunter, konnte mich jedoch nicht davon abhalten ein: „Der Meinung war ich bis vor einer knappen Stunde auch.", zu giften. Gerade als Heiko den Mund öffnete, um noch etwas zu sagen und ich meine Tasche raffte, mit dem Ziel, jeden Versuch eines Vater-Tochter-Gesprächs über Jungs zu entkommen, bimmelte das Glöckchen über der Tür erneut, hektisch, jemand hatte sie aufgerissen und stand nun schwer atmend im Laden und sah sich suchend um, Florian. Es wäre mir fast lieber gewesen, wäre er überhaupt nicht mehr aufgetaucht. Wirklich nur fast?
„Melli!",seine Miene hellte sich auf, als er eilig auf mich zu kam. „Entschuldige, ich schwöre dir, ich hab dich nicht vergessen!", er schenkte mir eines seiner schiefen Grinsen und zog mich zu sich, mir war klar, damit wäre früher jetzt wieder alles gut gewesen.
„Aha... bist du dir da sicher?", zischelte ich böse. Aber heute? Heute war rein gar nichts gut, das stand nicht mal in Aussicht. Bevor er auch nur die Chance hatte, Luft zu holen, um noch irgendetwas zu sagen, war ich schon mit großen Schritten zur Tür hinaus, die kurz nach mir hinter Florian ins Schloss fiel.
„Mel! Es tut mir wirklich Leid!".
„Mir auch, um die Zeit, die ich vergeudet hab!", fauchte ich und setzte mich in Bewegung und ärgerte mich über diesen schwachen Konter, das klang mehr nach kleiner, verzweifelter Freundin, nicht nach der rasenden Furie, die ihrem Freund heute am liebsten an die Gurgel springen wollte. „Mann Mel,wo willst du denn jetzt hin?".
„Was weiß ich, ich werd' sicher nicht weiter hier rumstehen und mit dir darüber diskutieren, wie Leid es dir tut, dass du mich eine Stunde hast sitzen lassen! Ist dir mal eingefallen, mir zu schreiben, dass du was später kommst?", stauchte ich ihn zusammen, unbeirrt setzte ich meinen Weg fort und hörte, wie er versuchte zu mir aufzuholen. Es war fast so, als würden alle Gefühle, die ich nach dem Essen bei seinen Eltern so tapfer in mir vergraben hatte, aufbegehren und mein Blut zum Kochen bringen und das Gespräch herausfordern, um das Florian und ich bis jetzt so geschickt verbal herumgetänzelt waren. Das heute war ganz offenkundig nur der berühmt berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und da ich schon seit geraumer Zeit innerlich am Brodeln war, sollte das nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Schlussendlich bekam er meine Hand zu fassen und zwang uns beide, stehenzubleiben, auch wenn ich immer wieder versuchte meine Hand aus seinem Griff zu befreien, dachte er wahrscheinlich nicht einmal eine Sekunde daran, sie loszulassen. „Okay, pass auf, du hast Recht, sorry, dass ich nicht dran gedacht habe, dir Bescheid zu sagen, wie wär's, wir fahren jetzt zu mir, machen nen Ruhigen, bestellen Pizza und morgen mach' ich dir Frühstück?". Auf meiner Unterlippe kauend, schaute ich auf den Boden. Wie sollte ich ihn da noch legitimiert zur Sau machen? Außerdem würde ich den Teufel tun und mir den schwarzen Peter selbst zu schieben und mit dem elenden Fiasko alias  dem Essen bei seinen Eltern anfangen. Solange sich das wegignorieren ließ, würde ich das auch verdammt nochmal tun.
Ich öffnete meinen Mund und wollte schon zu einer halbwegs versöhnlichen Antwort ansetzen, da bemerkte ich etwas Seltsames, was sich einen Weg über Flos Bein weiter nach unten bahnte. „Du blutest.",verwirrt blickte ich zu ihm auf und begegnete seinen bedröppelt schauenden Augen, er brauchte einen Moment, bis er zu einer Antwort ansetzte, offensichtlich überrumpelt von meinem plötzlichenThemenwechsel. „Ich hab mich mit dem Board gemault, ich war mit Frodo unterwegs und dann schon spät dran und wollte mich beeilen, wegen ... damit du nicht so lange warten musst.",verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. Super und ich Miststück hatte ihn gerade noch durch die Gegend gescheucht. „Aber ist nicht schlimm, wir haben nen Pflaster drüber gemacht.",ergänzte er Schulter zuckend, „Wollen wir dann?".
„Und weil es nicht schlimm ist, blutet es durch?", skeptisch zog ich meine Augenbrauen in die Höhe. Wie hatte das alles innerhalb weniger Minuten wieder so fürchterlich komplizierte Ausmaße annehmen können? „Wenn's dir so wichtig ist, mach ich zuhause nen Verband drum."
„Vergisses, ich flick' dich doch nicht auf deinem Küchentisch zusammen, das muss vielleicht genäht werden.", hielt ich entschieden dagegen und erntete nur ein Augenrollen von Flo. „Als ob.",widersprach er und wollte den Weg zu ihm einschlagen. „Selbst wenn nicht, wie lange ist deine letzte Tetanusimpfung her?", ich sparte mir die Mühe, auf eine Antwort zu warten und lief in die entgegengesetzte Richtung los, etwas langsamer als vorher, aber energisch genug, um Flo zum Mitgehen zu bewegen und unterdrückte das Bedürfnis, erneut mit den Augen zu rollen. „Was? Außerdem ist das die falsche Richtung."
„Das ist die richtige, nämlich die zur nächsten Notaufnahme." Das versprach lustig zu werden.
„Ich geh' doch nicht wegen eines bescheuerten Kratzers ins Krankenhaus! Ich hasse Krankenhäuser!", maulte er erwartungsgemäß gleich drauflos. „Kein Mensch mag Krankenhäuser und jetzt jammer nicht so wie ein kleines Kind. Stell dir vor die Scheiße entzündet sich oder du brauchst tatsächlich ne Impfung, dann sitzt du da um einiges länger rum, glaub'mir."
Was für ein toller Tag.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 10, 2020 ⏰

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If you're going through hell, keep going (LeFloid FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt