Verloren

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Kapitel 20:

„Wenn ihr euch fürchtet, seid ihr schon geschlagen." - William Shakespeare

„Können sie mir nicht irgendwelche Zusatzaufgaben geben, den Stoff oder die Hausaufgaben von nächster Woche?", flehend blickte ich auf das starre Gesicht meines Physiklehrers, dem ich langsam die Nerven zu rauben schien mit meiner ewigen Quengelei nach zusätzlichen Aufgaben. Erwartungsvoll sah ich sein Profil an, da er immer noch mit bösem Blick in die Klasse schaute, um mögliche Betrugsversuche im Keim zu ersticken, mit einem Seufzen erbarmte er sich letztendlich, ließ meine Mitschüler für einen kleinen Moment aus den Augen und zog ein Arbeitsblatt aus seiner vollgestopften Tasche. Als er es mir reichte, musste ich einfach fröhlich Grinsen, was ihm ein belustigtes Zucken mit dem Mundwickel entlockte. Kein Schüler bettelt nach extra Aufgaben, okay normalerweise war ein Schüler, mit einer für zwei Stunden geplanten Physikklassenarbeit, auch nicht in vierzig Minuten durch. Das unterstrich mal wieder die Tatsache, dass bei mir so einiges falsch lief. Zugegeben, sonst hatte ich auch nicht unbedingt einen Drang dazu, mir zusätzlich Aufgaben aufzuhalsen, aber in Physik war das was anderes. Ich liebte Physik und freute mich in dem Fach sogar über Hausaufgaben. Keine Sorge, ich weiß wie strange das klingt. Bei Frau Gräfe zum Beispiel hätte ich die Arbeit einfach auf den Tisch geknallt und wäre gegangen, das Lehrer Schüler Verhältnis konnte durch sowas nun auch nicht mehr verschlimmert werden, aber ich hatte kein großes Interesse daran, es mir mit meinem Physiklehrer zu verscherzen, erstens war er ein alter Griesgram und zweitens der Lehrer meines Lieblingsfachs.

„What is the number of the parking space containing the car?", mein Blick huschte runter zur Abbildung, in einer Ecke des Blattes konnte ich mehrere weg radierte Lösungsversuche sehen, auf dem Blatt war eine Skizze von einem Parkplatz, jede Lücke war nummeriert 16, 06, 68, 88, dann kam das in der Aufgabenstellung erwähnte Auto, 98. Was jetzt ernsthaft? Ungläubig wanderte mein Blick zum Lehrertisch, dann wieder zurück zu dem Arbeitsblatt vor mir. Kinder aus Kreuzberg können keine Höchstbegabung haben, offenbar teilte mein Physiklehrer die Meinung meiner Mathelehrerin und meines Direktors. Wut und Enttäuschung machten sich in mir breit und Tränen stiegen mir in die Augen. Wie konnte dieser Mensch es wagen, mir eine Aufgabe vorzusetzen, die jeder gehirnamputierte Achtklässler hätte lösen können. Es war wie ein Schlag ins Gesicht und der grausame Beweis dafür, dass ich in den Augen anderer nichts wert war, vielleicht war nichts sogar noch zu viel.

Erhobenen Hauptes und mit gepackten Sachen stolzierte ich durch den Klassenraum, wahrscheinlich interessierte sich schon gar keiner der Kursteilnehmer mehr für mich, weil die meisten die Show vom Matheunterricht mit der Gräfe schon kannten, nicht einmal der Griesgram hob den Kopf. Er linste nur aus dem Augenwinkel zu mir, als ich ihm das Arbeitsblatt verkehrt herum auf die Tischplatte knallte und somit die Lösung offenbarte. Mir konnte doch keiner erzählen, dass auf die Idee noch niemand hier gekommen war! Ohne einen weiteren Blick auf meinen Physiklehrer zu werfen, verließ ich den Raum. Sollte ich froh oder traurig sein, dass weder Zack, noch Em oder Nikkie in meinem Physikkurs saßen?

Ich saß im Dunkeln, immer wenn es mir schlechtging, saß ich im Dunkeln. Das dürfte wohl auch der Grund dafür sein, dass mein Vater mich früher zuerst in den Schränken gesucht hatte, als ich mich versteckte, weil meine Mutter mich angeschrien hatte. Für ihn war ich etwas wert gewesen und mir war er das auch, verdammt viel sogar.

In meinem Zimmer war es stickig und warm durch das geschlossene Fenster und die Jalousien, aber es war dunkel. Ich war ganz allein zuhause, lag auf dem Boden meines Zimmers, starrte die Decke an und wartete darauf, dass etwas passierte oder auch nicht, keine Ahnung. Vielleicht wartete ich aber auch auf die Erkenntnis, dass das Leben doch gar nicht so scheiße war, wie ich dachte, obwohl, das ist ziemlich dumm. Bevor mich diese Erkenntnis ereilte, würde ich wahrscheinlich an dem hohen Kohlenstoffdioxidgehalt hier verrecken.

Ruckartig richtete ich mich auf und suchte meine Bücherstapel systematisch mit den Augen ab. Shakespeare, Lessing, Goethe, Collins, Funke, Schiller, Kafka, wo war Rilke? Irgendwo hatte ich doch schon mal einen Gedichtband von ihm gesehen, die Frage war nur wo. Ich wusste wie albern dieser Versuch der Ablenkung war und ich wusste auch, dass ich mich von meinem heulenden Selbstwertgefühl nicht ablenken konnte, aber die Suche nach etwas gaukelte mir vor nützlich zu sein und das fühlte sich im Moment gut an.

Hektisch tapste ich barfuß durch mein Zimmer und suchte nach Rilke. Ich fand so ziemlich alles, unter anderem den vierten Harry Potter Band, der schon seit mindestens drei Jahren verschollen war und nun mehr nach Staublappen als Buch aussah, alles nur nicht Rilke. Dabei war ich mir hundertprozentig sicher, einen Gedichtband von ihm hier schon einmal gesehen zu haben.

Nach einem logischen Ausschlussverfahren, da das Büchlein in meinem Zimmer offensichtlich nicht auffindbar war, blieb nur noch das Bücherregal im Wohnzimmer, in dem sich die Bücher meines Vaters befanden. Sie waren das Einzige, was meine Mutter nicht entsorgt hatte. Mein Blick wanderte zur Tür, einen Moment spielte ich mögliche Szenarien durch, die passieren könnten, wenn ich aus dem Raum ging. Wozu die Sorge? Ich war ja schließlich allein zuhause.

Zielsicher und ohne groß zu überlegen, nahm ich die Treppe nach unten und ging ins Wohnzimmer zum Bücherregal meines Vaters. Da stand es ja tatsächlich, ich zog das hellblaue Buch heraus und betrachtete es zufrieden.

Die Haustür schlug zu, was mich herumfahren ließ, darauf folgte lautes Gepolter. Oh nein, bitte nicht heute, nicht heute. Vor zwei Wochen, hatte ich ihn das letzte Mal gehört, vor drei das letzte Mal gesehen. Warum heute? Selbst wenn ich rennen würde, würde ich es nicht schnell genug die Treppe hoch in mein Zimmer schaffen, ich saß in einer Sackgasse. Bei dem Gedanken an eine Kamikaze-Aktion huschte mein Blick zum Fenster. Ich zögerte einen Moment, zu spät. Der beißende Geruch von Schnaps kroch in meine Nase, als mein Stiefvater im Türrahmen auftauchte. Sackgasse. Rilke landete auf dem Boden, ich begann vor Angst zu zittern, bedrohlich kam er auf mich zu. Er hasste mich. Mich, meine Mutter, sich selbst, das Leben, den Staat, einfach alles. Ein Wimmern kam aus meiner Kehle und ich presste mich gegen die Wand. „Wir ham' uns ja schon lange nisch mehr jesehen.", lallte er. „Du frisst dich hier durch un' lässt disch nich ma blicken.", führte er weiter aus und torkelte auf mich zu. Ich hatte einmal den Fehler gemacht, ihn in so einer Situation zu unterschätzen, danach hatte ich zwei gebrochene Rippen. „Du bischt ä widerlicher Schmarotzer!", schrie er aufgebracht. Jedem anderen hätte ich gesagt, dass er spinnt, denn es war mein Geld, dass hier den Kühlschrank füllte und das Wasser am Laufen hielt, aber nicht ihm.

Der erste Schlag traf mich unvorbereitet im Gesicht, warmes Blut lief meine Nase herunter. Ich hatte Angst.



Drama Baby Drama! :D Wie immer, herzlichen Dank an die Menschenkinder von euch, die sich die Zeit nehmen, ein paar liebe Wörter für mich dazulassen und fleißig ihre Stimmen abgeben :3 Beides freut mich jedes Mal ungemein! 

If you're going through hell, keep going (LeFloid FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt