Shakespeare

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Kapitel 32:

„Wo man Liebe aussät, da wächst Freude empor." - William Shakespeare

Zahlreiche Gutenachtgeschichten, Leseübungen im Grundschulalter, Wochenenden bei meinen Großeltern mit Unmengen an Eiswaffeln, Theaterbesuche mit meinen Eltern, Trost, Erkenntnis. Liebgewonnene Erinnerungen, eingefangen wie mit einem Photoapparat, sorgfältig aufbewahrt in unzähligen Alben, fest verschlossen in meinem Kopf.

Shakespeare war bereits ein fester Bestandteil meines Lebens gewesen, da konnte ich noch nicht einmal ohne Hilfe stehen. Die unerschütterliche Affinität zu seinen Werken, Personen und ihm selbst, war mir auch praktisch in die Wiege gelegt worden. Meine Großeltern hatten sich bei einer 'Maß für Maß' – Inszenierung kennengelernt, meine Oma hatte mit ihrer Rolle als Ophelia Berliner Theatergeschichte geschrieben und mein Vater war nach Valentin aus 'Was ihr wollt' benannt, sogar mein Zweitname diente als Shakespeare lastiges Muttermal. Auf Protest der halben Familie war zu der Schiller inspirierten Amalia noch eine Julia hinzugekommen und mein Vater hatte es Zeit seines Lebens damit gerechtfertigt, dass das gleichzeitig der Vorname meiner Mutter war und keineswegs der halbe, eingedeutschte Titel einer englischen Tragödie. Mein Vater war nebenbei bemerkt ein grauenvoller Lügner gewesen, meist hatte er sich durch ein unwillkürliches Zucken seiner linken Augenbraue verraten.

Jeder Wortwechsel zwischen Beatrix und Don Carlo kitzelte Tränen hervor, während ich mich vor lauter Lachen krümmte und nach Atem rang. Bei jeder Zeile von 'Romeo und Julia' beschlich mich ein erwartungsvolles Herzklopfen. Hamlet hielt mir zu jeder Zeit einen Spiegel vors Gesicht und 'Ein Sommernachtstraum' war frischgebackener Apfelkuchen, Pfeifenrauch und heiteres Lachen auf der Veranda meiner Großeltern an einem warmen Sommerabend.

Und seit diesem Tag würde 'Die Widerspenstige Zähmung' ein einziges Bündel aus Endorphinen sein, das in meinem Bauch unermüdlich auf und ab hüpfte. Ein warmes Kribbeln, was nach und nach den ganzen Körper befiel, ein dauerhaftes Grinsen, raue Finger auf meinem Handrücken. Ein schwarzes Hemd, das über einen breiten Rücken spannte und mir schon die Schamröte ins Gesicht trieb, wenn ich diesen Anblick auch nur in meinem Augenwinkel erahnen konnte und ein leichter (ziemlich sexy) Bartschatten, Herzrhythmusstörungen, der Geruch nach Pfefferminze, Verliebtsein. Das Eingeständnis, dass dieser Begriff nicht einmal mehr annähernd zutraf.

'Die Widerspenstige Zähmung' würde ab diesem Tag unwiderruflich, für immer und ewig Florian sein. Catarinas Worte ein heimlicher Blick. Die Auftritte Petruccios sanfte Kreise auf meinem Handrücken. Das Ende der zweiten Szene des fünften Aktes ein Wangenkuss und das Gefühl, wie sich unsere Hände verschränkten.

Meine Hand lag immer noch fest in seiner, als wir uns einen Weg durch die, aus dem Theater strömende, Masse an Menschen, bahnten. Während Floid zielsicher mit mir im Schlepptau seines Weges ging, stolperte ich mehr schlecht als recht hinter ihm her. Und dieser Umstand beruhte, zu meiner eigenen Schande, nicht darauf, dass mein Herz sich mal wieder einbildete, seine

Dubstep-Phase ausleben zu müssen und folglich auf's Heftigste abzugehen oder auf dem altbekannten Shakespearefieber, das jede Pore des Körpers befiel, wie selbstverständlich mit jeder Aufführung einherging und einem das wunderbare Gefühl vermittelte, auf Wolken zu laufen und für einen Augenblick über allen Dingen zu schweben. Nein. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mir nicht einmal selbst überzeugend vorgaukeln, dass letzteres der Grund für meinen motorischen Totalausfall war.

Es lag einzig und allein an meiner eigenen Dummheit und daraus resultierenden 7 cm pure Hölle, die mich auf beeindruckende 1,69 m brachten und zu allem Übel die Sache absolut nicht wert waren. Nicht im Geringsten. Eigentlich hätte ich aus Prämisse Nummer eins, der Tatsache, dass mein letzter Versuch einer, nennen wir es körperlichen Optimierung schon erhebliche Opfer geforderte hatte und Prämisse Nummer zwei: Dies ein nicht zu tolerierendes Preis-Leistungsverhältnis mit sich gezogen hatte (Ja wir reden hier vom Haare glätten), die überaus logische Konklusion erschließen müssen, dass derlei Unternehmungen keine Früchte trugen, also sprich Florian entweder nicht auffielen oder schlichtweg einfach nicht interessierten und ich es dementsprechend lassen sollte. Aber nö, da ein IQ von 146 offenbar kein Cover-up für Aufmerksamkeitshascherei einer liebestollen siebzehnjährigen darstellte, brach ich mir lieber freiwillig sämtlich Knochen, die in meinen Füßen vorhanden waren. Zu meiner Verteidigung ist allerdings hervorzubringen, dass Florian diesmal aktiv zu meinem Verhalten beigetragen hatte. Echt jetzt! Das ist ausnahmsweise mal keine Übertreibung (höchstens eine hormonbedingte Überinterpretation).

„Ich könnte dich den ganzen Tag küssen!" - Sicherlich, bis zum aktuellem Zeitpunkt hatte es neben dem Wangenkuss, der außerdem viel näher an meiner Schläfe gewesen war als an meinen Lippen(!), keinen erwähnenswerten Versuch mehr in die angedeutete Richtung gegeben. Was seine Worte ja ganz offensichtlich Lügen strafte, oder nicht? Und dafür dann der ganze Aufwand. Ich konnte mir gerade so ein theatralisches Aufseufzen verkneifen.

Prinzipiell wollte ich ja nicht undankbar klingen, obwohl ich im Moment wohl die Undankbarkeit in Person war, aber war es denn, nach Wochen des gefühlstechnischen Chaos' und eindeutig zu häufigen Nahtoderfahrungen, wirklich zu viel verlangt, endlich einmal einen richtigen Kuss zu bekommen? War es das? Anscheinend ja schon. Himmel, ich hatte mittlerweile genug Geduld bewiesen! Eine emanzipierte, junge Frau, was ich ja ohne jeden Zweifel war, wenn ich nicht gerade liebestrunken durch die Gegend torkelte, wartete nicht, sondern handelte! Schließlich war mein Leben ja kein Hamlet Cosplay! Dafür musste ich zuallererst diese elendigen Folterinstrumente an meinen Füßen loswerden.

Voller Tatendrang und mit dem Selbstbewusstsein eines spanischen Torero kickte ich die Pumps von meinen geschundenen Füßen und machte mutig zwei Schritte auf Flo zu, der sich verwundert zu mir umgedreht hatte, als ich urplötzlich stehengeblieben war. Mit einer großen Portion Mut, die jedem verdammten Stier das Fürchten gelehrt hätte, trat ich noch einen weiteren Schritt auf meinen Gegenüber zu. Das vertrocknete Gras pikste in meine Zehen und ich fühlte die grobe Stoffstruktur des dunklen Leinenstoffs seines Hemdes unter meinen Fingerspitzen, bis meine Hände in seinen Nacken zum Liegen kamen. Mein Puls begann mit einem Mal wieder wie wild zu rasen, ich hatte das Gefühl nicht mehr genügend Luft in meine Lunge zu bekommen, atmete tiefer ein. Die Welt schien nur noch aus Pfefferminze und Mate zu bestehen, so intensiv nahm ich jetzt Florians Geruch war. Meine Zähne gruben sich nervös in meine Unterlippe. Eine seiner Hände legte sich auf meine Wange, sein Daumen strich an meinem Mundwinkel entlang, unsere Lippen nährten sich, mein Herz war vermutlich dabei, alle existierenden olympischen Rekorde zu brechen. In mir kam das dringende Bedürfnis auf, vor lauter Panik mit beiden Händen über dem Kopf schreiend im Kreis zu rennen. Ich suchte seinen Blick.

Wäre ich jetzt ein echter Torero gewesen, läge ich jetzt mit einer Wahrscheinlichkeit von 110 Prozent aufgespießt und sterbend irgendwo in der Arena, weil ich nämlich, völlig in Paralyse verfallen, nur noch dastand und in Flos Augen sah. Das hier übertraf jeden bisher dagewesenen Nervenzusammenbruch um Längen.

Shakespeare war das Gefühl von warmen Lippen, die sich zuerst nur vorsichtig streiften, kurz darauf das freche Stupsen einer Zungenspitze gegen meinen Mund. Weiche Haare, durch die unablässig meine Finger fuhren. Atemnot. Leises, glückliches Lachen. Leichtes Kratzen von Bartstoppeln auf meiner Haut. Absolute Leere im Kopf und gesundheitsgefährdendes Herzklopfen.

Ab heute war Shakespeare Florian und ich.


If you're going through hell, keep going (LeFloid FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt