-Montag
"Miss Clarke?" Ich schrecke hoch und schlage mein Knie an der Tischkante an, unterdrücke ein schmerzhaftes Aufzischen.
"Entschuldigung... Ich war in Gedanken", gebe ich meinem Kunstprofessor ehrlich zur Antwort und sacke wieder in meinem Stuhl zusammen. Ich habe die letzte halbe Stunde permanent über Nan nachgedacht. Über ihre Beerdigung; darüber, was sie zu all dem sagen würde. Oder auch welchen Rat sie mir geben würde, wenn ich noch einmal mit ihr reden könnte.
Zum Glück ist Mr. Conan ein extrem geduldiger Mensch, der seine Studenten nicht bei jeder Kleinigkeit anschreit, sondern seine Frage meist einfach wiederholte. So auch jetzt.
"Mit welcher Intention glauben Sie hat der Künstler dieses Bild gemalt?", wiederholt er und schaut mich quer durch den Saal mit gehobenen Augenbrauen und einem auffordernden Gesichtsausdruck an.
Mein Blick fällt zum ersten Mal heute zu dem an die Wand projezierten Bild.
"Ich glaube Salvador Dalí wollte die zerrinnende Zeit bildlich machen ..." Ich schaue kurz zu meinem weiterhin auffordernd nickenden Professor, dann wieder zu dem Bild. "Das Bild hat einen unendlichen Horizont- wie die Zeit."
Ich drehe einmal unsicher meinen Bleistift in der Hand.
"Vielleicht wollte er damit ein Zeichen setzen; zu den Zeiten der wirtschaftlichen Probleme der Dreißiger, in denen die grundlegenden Dinge in Vergessenheit gerieten."
Total unsicher schaue ich auf mein Gekritzel, das vor mir auf dem bemalten Tisch liegt, und male ein paar neue Linien darauf; der Professor hat inzwischen einen weiteren Studenten aufgerufen, der ihm eine ähnliche Frage zu diesem Bild beantworten muss.
Ich finde mich dabei wieder, wie ich über die Beerdigung nachdenke; passend zu den fetten schwarzen Linien auf dem Blatt vor mir.
Eine Stunde später verlasse ich den Hörsaal, ich habe beschlossen mir von meinem Restgeld des Monats einen Mantel für die Beerdigung meiner Grandma zu kaufen. Normalerweise lasse ich den restlichen Verdienst auf meinem Konto, heute aber werde ich die Euro der letzten paar Monate ausgeben und sinnvoll ausgeben.
Natürlich tue ich das mit dem Hintergedanken, dass meine Mutter sich fragen wird, wie es sein kann, dass ich ohne ihr Geld in ordentlicher Kleidung herumlaufen kann.
Wenn man sie fragt, ist Geld das wichtigste, das einzig zählende. Sie würde über Leichen gehen. Oder über eines ihrer Kinder.
Wenig später stehe ich schon mitten in einem der etlichen Läden und schaue Kleiderstange nach Kleiderstange durch, finde aber nicht wirklich etwas passendes, das man zu einer Beerdigung anziehen kann, ohne dabei den Mittelpunkt der Gesellschaft darzustellen.
Zum Glück finde ich ihm zweiten Laden etwas, immerhin muss ich noch ins Studio und sollte dabei besser nicht zu spät kommen.
"Das macht dann 89,99." Die Verkäuferin verliert ihr aufgesetztes Lächeln auch nicht, als sie mein Kleidungsstück gerade in eine Tüte packt, dazu den Kassenbon legt.
Ich bezahle schnell und bedanke mich noch höflich, bevor ich mir die Tüte greife und den Laden schnell verlasse.
Draußen schaue ich vorsichtshalber einmal schnell auf mein Handy. Ich bin noch in der Zeit, also muss ich nicht gerade sprinten, Gehen ist noch drin.
Mit meiner Tasche und der Tüte gehe ich dann ins Studio rein. Dabei möchte ich einfach zielstrebig zu meinem Kämmerchen gehen, werde aber vom Cas am Empfang noch aufgehalten.
"Lou?" Ich bleibe stehen und schaue ihn neugierig an.
"Kannst du am Mittwoch um ... ähm ..." Er schaut noch einmal kurz auf den Monitor vor sich. "Um 4 zu Betty mit rein, du sollst wohl zusammen mit einem Kunden einen Entwurf genauer besprechen beziehungsweise nach seinen Wünschen abändern. Er hat darauf bestanden, dass Du das tust." Cas grinst mich für den Bruchteil einer Sekunde wissend an. Mein Grinsen hingegen ist eher ein erstarrtes, dass nicht mehr richtig weggehen möchte.
Bei gewissem Kunden, weiß ich genau wer es ist. Zufälligerweise der, der mich mehr oder weniger auffällig angegraben hat, leider aber zu meinen wichtigsten Kunden gehört, durch die ich diese Arbeit vorerst halten kann.
"Es wird sicher nur eine halbe Stunde dauern, dann kannst du auch den restlichen Tag freinehmen", ermuntert Cas mich mit einem sanftmütigen Blick, muss dann aber umschalten, weil einer der Kunden zu ihm kommt und ihn etwas fragt.
Ich mache auf meinem Absatz kehrt und gehe weiter durch den Flur, öffne die Tür, hinter der mein Schreibtisch liegt und betrete den kleinen, um diese Zeit sogar mit Tageslicht erfüllten Raum.
Die Tüte wird neben meinen Schreibtisch gestellt, meine Jacke über den Stuhl und die Tasche an den Haken gehängt.
Der Stuhl kratzt als ich ihn unter dem Tisch hervorziehe, um darauf Platz zu nehmen.
Mein Kopf ist so voll mit allem, dass ich Joseph anrufen muss, bevor ich irgendetwas anderes machen kann. Er ist der einzige, der mir gerade helfen kann.
Schon jetzt hasse ich mich dafür, dass ich ihm noch nicht Bescheid gesagt habe, er mochte meine Grandma sehr und hat sie wie seine eigene behandelt.
"Lou?", antwortet er sofort verwundert, er ist wahrscheinlich im Büro. "Fuck ich hab vergessen dich anzurufen, ich wollte dir ja noch sagen, -"
"Jo Nan ist gestorben."
Ein Schlucken auf der anderen Seite der Leitung.
"Was? Das- das kann nicht sein ..." Ich kann sogar durch das Telefon hören, wie er sich verzweifelt durch die Haare rauft.
"Meine Mutter hat heute Morgen angerufen. Die Beerdigung ist am Samstag um 4. Kannst du bitte mit mir mitkommen?" Meine Stimme wird zum Ende hin leiser und brüchiger.
"Natürlich komme ich mit Lou, was denkst du denn? Ich schwöre, wenn deine Mutter mit mir spricht, spucke ich ihr ins Gesicht. Diese- "
"Ist okay Jo." Ich schmunzle leicht über die Rage meines besten Freundes, der wahrscheinlich einen noch größeren Hass auf meine Mutter hat, als irgendjemand anders es jemals haben könnte.
"Ich ruf später nochmal an", spreche ich weiter und wirke gleich gefasster. Das habe ich der mehr oder weniger Anwesenheit meines Freundes zu verdanken.
"Ich komme nach der Arbeit vorbei, dann reden wir", wendet er ein und ich nicke zustimmend, füge ein 'Ja' hinzu.
Er erklärt, dass er jetzt weiterarbeiten muss, entschuldigt sich dafür. Ich hingegen meine, dass auch ich arbeiten muss, verabschiede mich und lege auf.
Sofort reisse ich mir ein Blatt aus meinem Skizzenblock und nehme einen Kugelschreiber, um grob etwas darauf zu zeichnen, die Vorskizze zu machen, nach der ich später ein detailierteres Bild mache.
Das Motiv stand schon fest, als ich den Stift in die Hand genommen habe; ein Fliederstrauch. So einer, wie meine Grandma ihn früher immer in ihrem Garten hatte.
Wenn wir im Frühsommer bei meinen Großeltern zum Essen waren, bin ich immer heimlich mit meiner kleinen Schwester Susie rausgegangen, um einfach nur die riesige Pflanze mit offenem Mund anzustarren. Das war sozusagen unser Ding, wir beide waren verschossen in Flieder und alles was damit zu tun hat.
Ich bin mir nicht sicher, ob das heute noch bei ihr der Fall ist. Wahrscheinlich schon, immerhin ist sie nach meiner Grandma der erträglichste Mensch dieser Familie, auch wenn das in den letzten Jahren stark nachgelassen hat.
Es dauert ewig diesen einzelnen Ast zu malen, doch für mich ist es in diesem Moment eine Art Ventil, um alles noch einmal auf die schnelle zu verarbeiten und raus zu lassen.
Einige Zeit später lege ich das Blatt noch einmal vor mich, es ist nun fertig. Ich nehme ein letztes Mal meinen Stift zur Hand und schreibe in die untere Ecke ganz klein 'für Diana'.
Mit dem Bild versuche ich auch meinen schlechten Tag abzuheften.
*Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das alles viel zu viel auf einmal ist; der Tod von Nan und das ziemlich ruinierte Verhältnis zur Familie.
Ich verspreche aber, dass das jetzt nur die paar Kapitel so extrem war. Nur irgendwie habe ich gedacht, dass es wichtig ist, mehr über Louisa herauszufinden.
Natürlich ist dafür noch genug Zeit im restlichen Buch, aber trotzdem wollte ich, dass man ansatzweise ihre Beweggründe, ihr Verhalten und ihren Charakter (sofern schon einer auszumachen ist) versteht.
Okay, dann danke fürs Lesen.*
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Inked. (h.s.)
FanfictionDie Kunststudentin Lou ist der Inbegriff von einem Tollpatsch und bezeichnet sich selbst gerne als einen der seltsamsten Menschen der Welt; Harry ist CEO eines großen Konzerns und entflieht seinem stressigen Arbeitsalltag im Tattoo-Studio. Man könnt...