- F Ü N F U N D S E C H Z I G -

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Zuerst habe ich beim Geräusch der Klingel einen kleinen Herzinfarkt, aber der legt sich schnell, als Harry mich vorsichtig an der Hand in den Flur führt.

"Alles wird gut", erinnert er mich und hebt meine Hand an, um einen Kuss darauf zu setzen, bevor er mich schon ins kalte Wasser schmeißt, indem er die Haustür öffnet.

"Hallo", höre ich sofort die sanfte Stimme von Harrys Mutter, sehe ihm nächsten Moment, wie Harry von jemandem etwa meiner Größe in eine herzliche Umarmung gezogen wird.

Wenige Momente später lösen die beiden sich und Harrys Mutter macht Platz für seinen Vater, diesen kann ich aber nicht lange anschauen, da die brünette Frau vor mir mich schon grüßt.

"Du musst Lou sein", sagt sie in einem freundlichen Ton und ich nicke schüchtern, füge hinzu: "Es freut mich Sie kennenzulernen." Dabei halte ich ihr unsicher meine Hand entgegen, die sie lediglich nutzt, um mich in eine feste Umarmung zu ziehen.

"Nenn mich einfach Mary", meint sie daraufhin und wir lösen gleichzeitig die Umarmung. "Okay", erwidere ich vorsichtig und kann sogar leicht schmunzeln als ich die Grübchen der Frau vor mir sehe.

Sie dreht sich ebenfalls mit einem filigranen Lächeln, als ich bemerke, dass sie ihren Mann, Desmond, ansieht. Genau dann schlucke ich schwer, mache aber trotzdem einen Schritt in seine Richtung.

"Freut mich Sie kennenzulernen", wiederhole ich fast genau das, was ich zu Mary gesagt habe, klinge dabei aber um einiges schwächer.

"Hallo Louisa", spricht Desmond mit seiner tiefen Stimme und schüttelt kurz meine Hand, die ich ihm ebenfalls zittrig entgegen gestreckt habe.

Ohne weiteres fällt mir nicht ein, was ich noch sagen könnte, deswegen nicke ich nur leicht, sehe stattdessen einmal kurz zu Harry, der die ganze Situation genauestens zu observieren scheint.

Als er den hilflosen Ausdruck in meinen Augen bemerkt, beginnt er mit seinem Vater über irgendetwas zu sprechen, ihn dabei schon Richtung Essbereich zu führen, sodass ich mich nur mit Mary beschäftigen kann.

"Harry meinte du hast bis eben noch gearbeitet?", hakt sie neugierig aber freundlich nach und verrät mit ihrem Ton, dass sie gerne erfahren würde, wo ich genau arbeite.

"Ja, ich sollte noch einige Entwürfe scannen und einsortieren", erkläre ich knapp und merke, wie Marys blauen Augen mir aufmerksam folgen.

"Also machst du alle Entwürfe komplett selbst?"

"Ja, ich bespreche höchstens die Ideen mit wem anders", antworte ich ehrlich und frage mich, ob sie weiß, dass ich einen Großteil von Harrys flächendeckenderen Tattoos entworfen habe.

"Hast du Harry dadurch kennengelernt?", fragt sie direkt aber keinesfalls mit einem nur ansatzweise negativen Unterton. Die Frage von eben hat sich dadurch sofort geklärt.

"Nein, nicht wirklich.. Naja, er hat die Entwürfe so bei einer Kollegin ausgesucht und im Normalfall bekomme ich davon dann auch nichts mit."

"Und wie habt ihr euch dann kennengelernt?", fragt sie genau dann, als Harry und Desmond einen Moment nicht mehr sprechen, zieht damit jedermanns Aufmerksamkeit auf das, was ich jetzt sagen werde.

Beinahe rutscht mir ein lautes "verdammt" heraus, bevor ich schnell und schmerzlos erzähle: "Wir sind uns einfach über den Weg gelaufen."

Anhand von Marys Blick erkenne ich, dass das nicht die dramatische Geschichte ist, die sie von mir hören wollte. In Desmonds Gesicht erkenne ich nichts, denn ich traue mich nicht einmal in es zu sehen. Wenn ich gedacht habe, damals von Harry eingeschüchtert gewesen zu sein, weiß ich nicht wie ich das hier nennen soll. Ich bin eine erwachsene Frau und mache mir fast in die Hose, wenn ich nur daran denke, etwas falsches ihm gegenüber zu sagen.

Inked. (h.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt