- D R E I Z E H N -

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Gerade wird das Vater Unser gesprochen, als ich mich immer unangenehmer zu fühlen beginne. Zuerst versuche ich dieses Gefühl abzuschütteln, gebe dann aber etwa zu Ende des Gebets auf, und schaue zu dem Mann, der mich so auffällig quer durch die Menschenmenge anschaut.

Sofort schlucke ich und drehe meinen Kopf wieder schnell nach vorne zum Priester. Trotzdem behalte ich im Hinterkopf, dass ich wieder von Harry Styles angeschaut werde, mich dabei noch am gleichen Ort wie meine Familie befinde.

Zu sagen, dass ich überfordert und verwirrt bin, ist nicht gerade untertrieben.

Am Ende der Beerdigung gehen natürlich alle nach vorne zur Familie und sprechen ihr Beileid aus; manche zurückhaltend, manche eher überschwänglich.

Jo geht auch nach vorne, um wenigstens kurz meinen Eltern die Hand zu geben. Auch wenn er sie hasst, hält er an seiner Höflichkeit fest.

Ich beobachte wie er als mit einer der letzten langsam nach vorne geht und ziemlich verhalten mit meinen Eltern redet. Währenddessen stütze ich mich an einem Baum hinter mir ab, verschränke meine Arme fest vor der Brust.

Wenn ich ehrlich bin, ist und war mir die ganze Zeit nicht nach Weinen zu mute. Wahrscheinlich aber auch nur, weil mich die Realisation, dass Nan tot ist, mich noch immer nicht wirklich getroffen hat.

Natürlich weiß ich, dass sie jetzt unter der Erde liegt, unter diesem wunderschönen Grabstein für immer schläft, nur irgendwie wollen meine Emotionen sich das nicht eingestehen. Sie ignorieren vollkommen, dass ich nie wieder ein Gespräch mit diesem wundervollen Menschen führen werde, geschweige denn ihn umarmen können, wenn es mir wieder einmal schlecht geht.

Es ist nur eine Frage der Zeit bis alles hinabstürtzt und mich erschlägt. Mit Kollateralschaden.

"Kanntest du sie?" Ich schaue nach links und richte mich automatisch gerade auf. Harry steht mir in einem schwarzen Anzug mit passendem Mantel gegenüber. Ich würde fast sagen, dass man seinem Gesicht etwas wie Betroffenheit entnehmen kann, doch trotzdem antworte ich nicht.

"Diana war wahrscheinlich der ehrlichste Mensch, der mir je begegnet ist", beginnt er aus dem Blauen zu erzählen und schaut vor sich auf den Boden. "Fast keiner wusste das zu schätzen." Er redet über sie, als ob er sie wirklich gekannt hat, ich kann ein Stirnrunzeln nicht verstecken.

"Sie war meine Großmutter", flüstere ich deshalb geradeaus und senke ebenfalls meinen Blick nach vorne herab. Sofort sehe ich wie sein Kopf sich in meinem Augenwinkel hebt. Er muss es nicht aussprechen, ich weiß was er denkt. Warum bist du dann arm?

"Tja." Ich lache einmal schwach und schaue nach vorne zu Jo, der immer noch mit durchgestrecktem Rücken eine kurze Unterhaltung mit meiner Schwester führt.

"Du bist Louisa?" Auch er runzelt angestrengt seine Stirn und scheint schwerst darüber nachzudenken, was er wohl über mich gehört hat, ohne zu wissen, dass wirklich von mir die Rede ist.

Ich nicke kurz und schaue wieder nach vorne; jetzt spricht Jo mit dem Freund- vielleicht auch Verlobten- meiner Schwester.

Eine sich mir entgegenstreckende Hand reisst mich vollkommen aus dem Beobachten. Ich schaue herab, und dann wieder zu Harry, die unausgesprochene Frage wird von meinem Gesichtsausdruck übermittelt.

"Du gehörst zu Familie. Ich schätze, dass es sich da gehört, mein Beileid zu wünschen."

Es überrascht mich, dass es das ist, was er tun möchte. Trotzdem aber hebe auch ich meine Hand und lege sie zaghaft in seine. Der Größenunterschied ist bemerkenswert, ich bilde mir ein, dass meine Fingerspitzen seine Knöchel im Falle eines Falles noch nicht einmal überragen würden. So groß sind sie nun auch nicht, - tadelt mein Unterbewusstsein aber.

"Mein Beileid", wiederholt er deswegen und versucht mir ein aufmunterndes Lächeln entgegenzubringen. Wie soll es mich aber aufmuntern, wenn es noch nicht einmal seine Augen erreicht?

"Danke Harry." Ich schaue ihm kurz schüchtern in die Augen und bilde mir ein, dass dieser Blick das Lächeln bis zu seinen Augen bringt, verwerfe diesen Gedanken aber.

Ich muss mir eingestehen, dass ich meine Hand etwas widerwillig von seiner entferne und dann unbeholfen zu meiner Seite herunterhängen lasse.

Harry sieht mich konzentriert an, sodass ich wieder beginne mich zu fragen, was er gerade denkt, schaue aber gegensätzlich zu meinen Gedankengängen nicht weiter in seine Richtung, sondern einfach zur Seite, wo die ganzen anderen Grabsteine von der Sonne angeschienen werden.

"Sollen wir Lou?", höre ich dann Jo sagen. Dieser schenkt Harry erst Beachtung, als er sich neben mich stellt und ihn genau mustert.

"Wer ist das?" Seine Augen inspizieren Harry kritisch und scheinen ihn nach einer Art Fehler abzusuchen.

"Das ist Harry", antworte ich leise und undeutlich, denn auch der Braunhaarige macht seinen Mund nicht auf, um sich  vorzustellen. Viel lieber leistet er sich mich Jo eine Art Blickduell, das mich als Außenstehenden fast verrückt macht.

Um ehrlich zu sein, schätze ich es aber, dass Jo es bei einem Blickduell lässt, Harry nicht buchstäblich duelliert, und wohlmöglich auf der Beerdigung von Nan zusammenzuschlägt. Das wäre genau das, was meine Mutter von meinem Auftauchen erwartet- Unruhe und jegliche Akte von Gewalt.

"Ich bin Jo", sagt dann Jo nach etwa dreißig Sekunden, in denen er seinen Blick auf eine fast schon aggressive Art und Weise mit Harrys verankert lässt. Sein Kiefer ist angespannt, als  er seine Zähne fest aufeinanderpresst.

Als Jo sich beschützend ein Stück näher zu mir stellt, sehe ich wie Harrys Augen ihn förmlich durchbohren mit ... Neid?

Es ist nicht so, als wäre das schon abgefuckt genug, als ich auch noch grob beiseite geschubst werde, um dann zu sehen, wie meine Schwester Harry überschwänglich umarmt, ihn damit komplett aus dem Konzept bringt.

"Du bist gekommen", quiekt sie aufgeregt in sein Ohr und löst sich schnell aus der Umarmung, um dann die Hand ihres Freundes, der ihr bis hier her hintergelaufen ist, zu greifen, und sich im Stehen eng an ihn zu schmiegen.

"Ich schätze schon", antwortet der Braunhaarige und kratzt sich verlegen am Kopf.

Enttäuscht sehe ich mit an, wie meine Schwester mir die eiskalte Schulter gibt, mit Harry und ihrem Freund, dessen Namen ich noch immer nicht kenne, unterhält. Das ganze geschieht- zumindest ihrerseits- auf eine Weise, die nicht beerdigungsgerecht ist und eher auf eine ausgelassene Familienfeier gehört.

Jo bemerkt mein Unwohlsein und rückt noch ein Stück näher an mich heran, um mir dann leise ins Ohr zu flüstern: "Sollen wir nach Hause?"

Ich jedoch antworte nicht sofort, da ich genau sehe, wie Harry während er meiner Schwester zuhört hin und wieder kurz zu mir schaut, dann aber schluckt, als er Josephs Hand an meiner Seite sieht.

"Ja", verwerfe ich sofort alle diesbezüglichen Gedanken und gebe meinem besten Freund einen leichten Schubser, damit er los geht.

Wäre es aber nicht Jo, würde er sich nicht noch freundlichst von meiner Schwester verabschieden. "Bis Bald Susie."

"Bis bald Jo." Sie wirft ihm ein warmes Lächeln zu, mich hingegen ignoriert sie wieder einmal, würdigt mich noch nicht einmal eines Blickes bevor sie sich ihren Gesprächspartnern wieder zuwendet.

"Bis bald", murmele ich nur kalt vor mich hin, um dann schnellst möglich von hier zu verschwinden.

Inked. (h.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt