Als Harry nach Beenden des Gesprächs aufgelegt hat, möchte ich meinen Kopf am liebsten ungedämpft auf die Tischplatte knallen lassen.
Dieser Anwaltsfreund von Harrys Familie hat buchstäblich in Paragraphen gesprochen, von denen ich lange nicht alles verstanden habe. Das, was ich verstanden habe, ist, dass wir das Video schon einmal nicht nutzen können, wenn es im Zusammenhang mit einem Einbruch steht. Also müsste man irgendeine andere Gelegenheit erfinden, bei der Jo daran gekommen ist.
Generell ist die Situation verzwickt, weil es auch seltsam wäre, wenn man den Stick anonym bei der Polizei abgibt. Das Ganze ist viel zu lange her, als dass man ihn zufällig gefunden haben könnte.
Deswegen muss irgendein wasserdichtes, einfaches und nachvollziehbares Lügenkonstrukt her. Der professionelle Anwalt war der erste, der sich dazu bereit erklärt hat, genau diese Geschichte zu entwickeln. Was hätte man anderes erwartet.
"Soll ich ihn hier lassen?", fragt Jo auf den Stick bezogen und sowohl Harry als auch ich nicken. Als wir uns für diese gemeinsame Entscheidung einen Moment ansehen, müssen wir beide noch einmal leicht beschämt schmunzeln.
Immerhin ist es gerade einmal knapp eine Stunde her, als wir unterbrochen worden sind. Danach war ja auch schon Jo auf dem Weg zu uns und wir haben nicht gerade viel Zeit gehabt, um irgendwie weiter darüber zu sprechen, geschweige denn wollten wir das. Deswegen haben wir uns zum Warten einfach nur schweigend aufs Sofa gelegt und genau jetzt, kommt das auf uns zurück.
"Ist irgendetwas los?" Jo riecht den Braten und sieht neugierig von Harry zu mir.
Im selben Moment greifen wir beide nach unseren Gläsern, die ich während des Telefonats für uns alle geholt habe, um sie so schnell wie möglich anzusetzen und damit zu verhindern, irgendetwas sagen zu müssen.
Schnell wird uns beiden aber bewusst, dass wir nicht ewig dem uns fragend anschauenden Jo und seinem Anliegen ausweichen können. Harry ist der erste, der sein Glas wieder von seinen Lippen löst und somit auch mich motiviert es ihm gleich zu tun. Gerade glaube ich, dieses kleine Duell gewonnen zu haben, als er es plötzlich wieder ansetzt, um auch den letzten Rest seines Wassers zu trinken.
Ich verdrehe innerlich meine Augen, antworte aber an Harrys Stelle nur nervös: "Nicht viel."
"Lou", fordert Jo sofort, "Ich bin bei Schuster eingebrochen, du bist mir eine Antwort schuldig." Bin ich das? Okay, die Frage ist wohl eher, ob er wirklich davon wissen möchte.
"Schuster war eben hier und ... ja."
Jo sieht mich an als würde er mir am liebsten ins Gesicht schlagen. "Er hat bemerkt, dass jemand in seinem Büro war und ist hergekommen, um ihm das zu sagen", erzähle ich so langsam und beiße mir auf die Unterlippe.
Am liebsten würde ich Harry boxen, aber ich weiß ja insgeheim, dass das alles hier nur wegen mir ist. Daher sollte ich mich nicht beschweren, wenn irgendetwas nicht so läuft, wie ich es mir gewünscht habe.
"So lange er dich nicht gesehen hat, kann er sicher eins und eins nicht zusammenzählen." Jo atmet kurz aus und ich verziehe mein Gesicht. "Naja", sage ich gefühlt eine Oktave höher.
"Oh Gott." Jo seufzt und reibt sich einmal durchs Gesicht.
"Es ist noch schlimmer." Ich beiße mir auf die Zunge. "Er hat uns sozusagen erwischt."
Harry neben mir verdeutlicht mit einem unbehaglichen Husten, dass ich nicht hätte ganz so viel sagen sollen. Vielleicht einfach Schusters Besuch zu erwähnen hätte gereicht, denke ich jetzt - Harry auch.
Als Jo die Bedeutung meiner Worte bewusst wird, weicht jegliche Farbe aus seinem Gesicht. "Das wollte ich nicht wissen!" Er drückt die Augen zu, um die Bilder, die sich gerade in seinem Kopf entwickeln, irgendwie an den Ort zurückzudrücken, von dem sie gekommen sind.
"Ich- Louisa- Nein!" Er tapst einen Schritt von der Küchentheke weg, sieht diese an, als hätten wir weiß Gott was darauf getan. Dann sieht er zum Sofa, dessen zerwühlte Kissen ebenfalls einen komplett falschen Eindruck vermitteln.
Seine blauen Augen weiten sich vor Horror und er würgt theatralisch, um trocken zu husten.
"Ich muss raus, bevor ich kotze", sagt Jo mit einem entschuldigenden Blick und Harry und ich unterdrücken uns beide ein Lachen. "Bis bald." Jo geht um die Theke herum, um mich wie sonst in den Arm zu nehmen, zögert dann aber und streicht mir stattdessen mit jeglicher Selbstbeherrschung über den Oberarm.
"Bis bald Jo", verabschieden auch Harry und ich uns von dem gerade leicht neben sich stehenden Typen, der im nächsten Moment schon die Wohnungstür hinter sich zuschlägt.
"Er wird darüber hinwegkommen", lacht Harry leicht beschämt und ich nicke knapp. "Trotzdem wird er es nicht vergessen", berichtige ich ihn und schon bald finden wir beide uns amüsiert schmunzelnd wieder.
"Ich muss noch nach Hause", sage ich nach einigen Sekunden, woraufhin Harry mich irritiert ansieht. "Wie?"
"In meine Wohnung", erkläre ich und er beißt sich ertappt auf die Unterlippe. Irgendwie ist es süß, wie er leicht beschämt auf den Boden sieht.
"Ich fahre dich", fängt er sich aber wieder schnell und lässt keine Widerrede zu. Nicht, dass ich mich nach heute darum prügele, alleine über die Straße zu gehen.
"Sollen wir danach wieder hierhin kommen?"
"Gerne", stimme ich zu und hänge einen weiteren Tag an die, in denen meine eigene Wohnung so gut wie leer steht. Ich habe mich einfach viel zu sehr an Harrys gewöhnt, als dass ich gerne in meine zurückgehe. Die Vorstellung, schon bald hier offiziell zu wohnen, lässt mich unwillkürlich Schmunzeln.
*
"Was packst du alles ein?" Harry sieht mich von meinem Bett aus fragend an.
"Meine Unterlagen für die Uni und die Arbeit", entgegne ich knapp und ziehe den ersten Reißverschluss der Tasche zu. "Und ein paar Klamotten", füge ich während dem Aufstehen hinzu und muss um an meine Schrank zu kommen, an Harry vorbeigehen.
Es überrascht mich nicht, dass er vom Bett aus den Arm ausstreckt, um mich so vom Weitergehen abzuhalten. Er legt seinen Arm komplett um mich und zieht mich näher an die Bettkante. Auf seinen Lippen ein jungenhaftes Grinsen, das mich quasi automatisch einmal durch seine Haare wuscheln lässt.
"Darf ich vielleicht weiterpacken?", frage ich nach einer Weile, in der Harry mich nur schweigend angesehen hat. Ich bekomme keine Antwort, sondern der Braunhaarige setzt sich umständlich auf, um dann blitzartig auch seinen zweiten Arm um mich zu legen und mich so auf seine Oberschenkel zu ziehen.
"Du Arschloch", protestiere ich amüsiert und möchte mich mit meinen Händen abstützen, um wieder auf die Beine zu kommen. Aber Harry greift sie noch bevor ich es nur versuchen kann, und bringt sie nacheinander an seine Lippen, um einen zarten Kuss darauf zu drücken.
Bei dem Gefühl meiner sich aufstellenden Nackenhaare, rutsche ich einmal kurz zurecht, bevor ich mich nach unten lehne und ihn küsse.
Wir beide haben im Kuss ein breites Grinsen, das es fast unmöglich macht, sich komplett darauf zu konzentrieren.
Ich liege schon mit meinem Kopf direkt neben seinem auf Harry, als ich mich kurz zur Seite drehe, um ihn anzusehen. Meine Tasche ist noch immer nicht gepackt, aber das hält mich nicht davon ab, mein Gesicht jetzt in seiner Halsbeuge zu vergraben. Genauso wenig davon, meine Lippen bewegungslos auf seinen warmen Hals zu legen, der sich mir unter der Berührung noch mehr entgegenstreckt.
"Ich liebe dich Harry", flüstere ich gegen seine Haut und fange an, jetzt verschiedene Stellen langsam auf und ab zu küssen.
"Ich liebe dich auch", entgegnet er rau und legt seine Arme einen Ticken fester um mich. Ich richte mich schwerfällig auf und meine bedauernd: "Ich muss die Sachen wirklich packen."
Mir eine kleinen Kuss aufdrückend setzt er sich mit mir auf und bietet an: "Ich kann dir dabei helfen."
Einen Moment zögere ich, aber dann nicke ich und klettere vorsichtig von Harry herunter.
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Inked. (h.s.)
FanfictionDie Kunststudentin Lou ist der Inbegriff von einem Tollpatsch und bezeichnet sich selbst gerne als einen der seltsamsten Menschen der Welt; Harry ist CEO eines großen Konzerns und entflieht seinem stressigen Arbeitsalltag im Tattoo-Studio. Man könnt...