- Z W Ö L F -

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Ich nicke ein weiteres Mal, um mir selbst ein wenig Mut zu bescheren. Verdammt, ich weiß genau wie das ganze hier enden wird- nicht gut.

Schon von weitem kann man sehen, wo wir hingehen müssen. Eine mehr als große  Menschenmenge gekleidet in schwarz steht in der Nähe eines der Grabsteine, etwas abseits von ihnen, deutlich näher am Grab, eine kleine Gruppe von Personen; meine Familie.

Joseph hat inzwischen aufgehört mich mehr oder weniger über die Pfade zu schieben, sieht stattdessen seine Aufgabe darin, den Blumenstrauß ordentlich festzuhalten.

Eigentlich ist es unser Ziel uns am Rand der Menschenmenge hinzustellen, abseits von all den Lästermäulern, die mein Auftauchen nur so erwartet haben. Dummerweise ist dies aber nicht möglich, da schon von Anfang an alle Menschen uns anstarren.

Obwohl ich mir geschworen habe, mit erhobenem Haupt an ihnen vorbeizugehen, knicke ich schon nach einigen Sekunden ein und gehe mit gesenktem Kopf meinen Weg. Ich konzentriere mich auf das leise Rascheln von Jos Strauß, statt auf ein paar gezischte Kommentare.

Was haben meine Eltern diesen Menschen erzählt?

Es scheint, als habe meine Familie uns noch nicht entdeckt. Sie wird es spätestens, wenn wir vorne zum Grabstein hingehen, um Josephs Blumen abzulegen. Ich gehe alle möglichen Szenarien durch, was sie tun könnten, hoffe aber insgeheim, dass keines von allen eintreffen wird.

Als wir wenige Meter vom Grab entfernt sind, weiß ich, dass meine Eltern und Geschwister mich gesehen haben müssen. Ich beruhige meine Nerven, in dem ich kurz meine Augen schließe und versuche meine Atmung ruhig zu halten. Dann öffne ich sie und greife instinktiv nach der Hand meines besten Freundes, um diese fest zu drücken. Ich würde fast behaupten, dass ich jegliche Blutzufuhr unmöglich mache, aber einmal bin ich egoistisch genug, um es beiseite zu schieben.

Ein lautes Räuspern von meiner linken Seite lässt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Ich verharre fast in meiner Bewegung, kann mich aber genug fassen, um stumm die etlichen Blumenstöcke, die vor dem Grab drapiert wurden, anzuschauen. Es scheinen immer mehr dazu gekommen zu sein.

Mein Blick fällt zu Jo, der seinen Strauß stumm ablegt, sich dann sofort wieder beschützend neben mir aufbaut und meine Hand fest hält.

Wäre ich nicht in dieser lachhaft grausamen Situation würde ich darüber lachen, dass wir aussehen wie ein Paar.

Jo möchte mich von dem unrealistisch wirkenden Grabstein, dessen Schrift ich benommen lese, wegziehen, als wir gestoppt werden.

"Louisa?" Ein schnippisches Auflachen meiner Mutter.

"Du bist tatsächlich gekommen", spricht sie weiter.

Alleine ihre Stimme lässt mich so so wütend werden. Es verlangt volle Körperbeherrschung einfach ruhig stehen zu bleiben und stumm für Nan zu beten.

Ginge man nach dem Beten, wäre ich die einzige Person meiner Familie, die sich auch nur trauen sollte, einen Fuß in eine Kirche oder ähnliches zu setzen. Sie alle sind viel zu gierig, um an etwas wie Glauben fest zu halten.

"Dabei hätte ich dir nicht so viel Mut angerechnet." Wieder lacht sie, ich bin ihr noch mit dem Rücken zu gekehrt, Jo presst seinen Kiefer zusammen.

Sie weiß mich aus der Reserve zu locken, denn ich drehe mich auf ihre Worte folgend sofort um, beisse mir fest auf die Unterlippe, um jegliche Beschimpfungen dieser Frau gegenüber in meinem Mund und vor allem unausgesprochen zu behalten.

Kurz schaue ich nur zu der Frau, die ihre braunen Haare aufwendig hochgesteckt hat. Dann zu meiner Schwester Susie, die beschämt vor sich auf den Boden schaut. Mein Bruder trägt indes das gleiche Grinsen wie meine Mutter, seine Hände lässig in den Taschen seiner Anzughose. Von meinem Vater keine Spur, wahrscheinlich redet er noch auf dem Friedhof mit irgendwelchen Geschäftspartnern- auf der Beerdigung seiner Mutter.

"Louisa", beginnt meine Mutter wieder,  wird aber von mir unterbrochen: "Halt. Deinen. Mund."

Ich möchte Josephs Hand loslassen, doch er hält sie fest, wohlwissend, dass ich sonst bald auf meine Mutter vor mir losgehe.

Meine Mutter ist unbeeindruckt, fährt stattdessen fort: "Sieh dich nur an Louisa, was aus deinem Leben geworden ist. Du bist eine Schande."

"Seien sie still", ermahnt auch Jo meine Mutter auf eine verhältnismäßig höfliche Art und Weise. Das böse Funkeln seiner Augen ist jedoch nicht zu übersehen.

"Wie ich sehe habt ihr zueinander gefunden." Sie schnalzt spöttisch. "Wahrscheinlich gab es noch nicht einmal eine Alternative für dich."

Wen genau sie damit meint, kann ich nicht herausfiltern, denn sie schaut uns beide abwertend an.

Ich schweige, denke aber nicht einmal ansatzweise daran, jetzt noch die Hand meines Freundes loszulassen.

Zwischen meinem Blickkontakt mit meiner Mutter höre ich nur beiläufig wie jemand etwas wie "Hallo Schatz" sagt, dann meiner Schwester, die am Rande der Gruppe steht, einen Kuss aufdrückt. Doch es ist mir egal, ich möchte nur wissen, was diese Frau vor mir zu sagen hat.

"Du weißt genau, dass ich das nicht tun würde", bringe ich leise hervor und schaue meiner Mutter eindringlich in die Augen. Ein kleines Fünkchen in mir erhofft sich ihr Verständnis, dass sie mir glaubt, doch was erwarte ich von ihr?

"Glaub mir, Obdachlose tun so ziemlich alles, um irgendwie an Geld zu kommen." Diese Worte von der eigenen Mutter zu hören, schmerzen mehr als alles andere. Auch wenn ich mir nichts darauf einbilden möchte, spüre ich die Tränen in meinen Augen aufsteigen, den Kloß in meinem Hals wachsen. Nicht weinen.

"Wir sollten gehen Lou." Jo möchte mich an meiner Hand wegziehen, doch ich bleibe wie vereist stehen und bringe nur ein karges Kopfschütteln hervor.

"Ich bin keine Obdachlose", sage ich lediglich zu meiner Mutter und suche jegliche Güte und Warmherzigkeit in ihren Augen, kann aber nur in zwei schwarze Löcher ohne Emotion schauen.

"Selbst wenn, alles ist besser als mit jemandem wie dir in einem Haus zu wohnen. Lieber verrecke ich als euer dämliches Gehabe noch einen Tag ertragen zu müssen. Ich könnte niemals so tief sinken, dass ich denn Hass und die Unbarmherzigkeit von euch übertreffen würde."

Mein Bruder starrt mich entgeistert an, selbst meine Mutter sieht einen Moment vor den Kopf gestoßen aus, fängt sich dann aber sofort wieder.

Meine Familie ist es nicht gewohnt von mir beleidigt zu werden, sie wissen nur wie es ist, auszuteilen.

Während ich geredet habe, konnte ich meine Tränen leicht zurückhalten, jetzt hingegen fällt es mir immer schwerer.

Ich bin ziemlich sicher, dass alle Leute hinter mir mich anstarren, versuche es irgendwie zu ignorieren.

"Komm schon Lou, fang an zu weinen, genau so wie du es immer gemacht hast. Oder bist du keine Heulsuse mehr?", zieht mein großer Bruder mich plötzlich auf. Diese Provokation scheint jegliche meiner Tränen zu versiegen, bringt nur ein Kopfschütteln auf seinen armseeligen Angriffsversuch hervor.

"Wir gehen", unterbricht Jo ihn bevor er noch irgendetwas dummes sagen kann und zieht mich rücksichtslos an meiner Hand von meiner Familie weg, quer durch die Menschen, die sich alle versammelt haben, bis an die äußere Ecke von dem ganzen Geschehen.

"Sollen wir wieder fahren?" Er schaut mich besorgt an und legt seine Hände auf meine Schultern.

"Nein." Er kannte meine Antwort sicher schon, denn sein Gesichtsausdruck ändert sich nicht, er schaut mich immer noch so an.

Aber auch ich lasse nicht nach und schaue ihn mit dem gleichen Blick an, so lange, bis er mich einmal flüchtig umarmt und sich dann versucht best möglich mit der Situation zufrieden zu geben.

Eine weitere Chance miteinander zu reden gibt es nicht mehr, da nun der Pastor über den Weg in diese Richtung kommt.

Als das den Menschen auffällt, hören sie sogar auf gegenseitig über einander zu lästern, über mich zu lästern.

Ich räuspere mich und richte mich gerade auf, um einen besseren Blick nach vorne zu haben.

Total in Gedanken verloren, bemerke ich zuerst gar nicht das Starren eines gewissen Anzugträgers.

Inked. (h.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt