- E I N U N D F Ü N F Z I G -

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Am nächsten Tag lädt Jo mich zum Mittagessen ein. Als kleines Dankeschön für meinen gestrigen Einbruch versteht sich natürlich. Während dem Essen verliert keiner von uns mehr ein Sterbenswörtchen über gestern, so wie es vereinbart ist.

Wobei wenn ich ehrlich bin, ich auch nicht wirklich über Jos Sexleben Bescheid wissen will, schließlich habe ich das noch nie. Diese eine Sache da reicht mir vollkommen aus, um auch die nächsten zehn Jahre unserer Freundschaft nichts mehr darüber hören zu wollen.

Stattdessen reden wir über uns, unser Leben, unsere zukünftigen Chancen, etwas mehr aus uns zu machen. Dabei kommen wir relativ früh zu dem Thema Kunstgalerie. Ich erzähle ihm ausführlich von dem seltsamen Verhalten meines Professors und davon, dass ich keine Ahnung habe, was genau ich tun soll.

"Ich habe irgendwie Angst, dass ich mich damit selbst nackt mache und allen diese Sache offenbare", bringe ich hervor während ich grüblerisch in meinem Burrito herumstochere. Was ich sage, klingt für mich, als hätte ich es schon hundert Mal gesagt, aber es entspricht schlichtweg der Wahrheit.

Jo sieht mich einen Moment nachdenklich an. "Du weißt, dass ich keine Ahnung von Kunst habe", beginnt er letztlich und legt sogar seine Gabel ab, sieht mich während des Sprechens intensiv an. "Aber vielleicht ist das die Art Kunst, die man braucht?" Er macht eine minimale Geste, die ich kaum bemerke.

"Viel zu viel heutzutage wird besser dargestellt als es wirklich ist und wenn jemand wieder ehrlich zu den Menschen ist und dazu steht, dass nicht alles perfekt ist, gibt es ihnen Sicherheit."

Ich höre ihm genauestens beim Sprechen zu und lasse seine Worte sickern, nehme konzentriert einen Schluck aus meinem Glas.

"Indem du dich eventuell nackt machen könntest, gibst du etlichen anderen eine Jacke", sagt er einen schlichten Satz, der noch so wage er formuliert ist, umso wahrer ist und mich zum Nachdenken anregt.

Jo hat vollkommen Recht; wer vermutet hinter einem solchen Bild schon die Geschichte davon, wie dieser Mann mich diskret auf die Terrasse gebeten hat, um mich von dort zu den Toiletten zu zerren. Und wenn jemand den Schmerz dahinter verstehen sollte, kann es einem anderen doch nur helfen?

Meine Erfahrung hat eventuell das Potential jemand anderem zu helfen, oder ihn wenigstens besser fühlen zu lassen, warum sollte ich es dann verstecken?

"Du kannst mich auch in alles rein reden", bringe ich in einem neckischen Ton hervor, als ich merke, dass meine Entscheidung schon längst gefällt ist. Wie oft in meinem Leben habe ich bitte eine solche Gelegenheit und wie oft habe ich in der Vergangenheit durch zu langes Überlegen schon meine Chancen verspielt? Zu oft.

"So bin ich nun einmal." Er grinst schief und richtet sich dann wieder seinem Essen zu.

Ebenfalls mit einem filigranen Grinsen auf den Lippen esse ich genauso stumm weiter wie er.

~

"Ich habe mich entschieden", teile ich meinem Professor mit als ich in seinem Büro stehe.

"Ich nehme die Chance wahr", fahre ich ungefragt fort und beiße mir auf die Unterlippe.

"Tatsächlich? Das ist wunderbar?" Er grinst zufrieden und streicht sich die grauen Haare nach hinten.

"Genauere Informationen gibt es erst später, aber ich bin froh Sie dabei zu haben."

Ich nicke schmunzelnd und schiebe meine Zweifel bei Seite.

Wenig später verlasse ich das Büro auch schon wieder und mache mich mit meiner Tasche auf den Weg nach draußen.

Auf dem Flur gehe ich wie gewohnt in der Masse unter. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem ich das Universitätsgelände müde verlasse, um zu Fuß nach Hause zu gehen.

Denn zwischen den ganzen Autos von Studenten und Lehrern steht ein mir nur zu bekanntes Bonzenfahrzeug, das zufälligerweise genauestens auf Harry zurückzuführen ist.

Kaum sehe ich den Wagen, scheint auch dessen Fahrer mich zu sehen, denn er setzt sich in Bewegung, um in meine Richtung zu fahren. Ein wenig überfordert weiß ich nicht so recht, was ich tun soll, weswegen ich einfach unbehaglich meine Tasche festhalte und auf der Stelle stehen bleibend warte, bis das Auto vor mir Halt macht.

"Hallo", grüße ich den Braunhaarigen mit gerunzelter Stirn und sehe schon im ersten Moment, dass er noch seinen Anzug trägt. Dabei ist es nicht einmal verwunderlich, immerhin ist gerade eigentlich seine normale Arbeitszeit und diese Woche wurde er auch nicht von seinem Vater nach Hause verbannt.

"Hallo Lou", entgegnet er und erst jetzt wird mir ihm seine ansehbare Abgeschlagenheit bewusst. Seine Haare sind nicht wie sonst zu seinen Arbeitszeiten säuberlich auf seinem Kopf gerichtet. Das warum klärt sich, als seine rechte Hand nervös durch sie rauft, ihre Form damit komplett ändert; immer wieder.

Auch hinter seinen sonst so strahlend grünen Augen kann ich eine gewisse Mattheit erkennen, die mich bei genauerem Betrachten unwohl fühlen lässt.

Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass Harry absolut scheiße aussieht.

"Steig ein." Seine für sein Aussehen unpassend sanfte Stimme reißt mich aus meinem Starren und ich nicke lediglich, bevor ich unbemerkt vom ganzen Campus-Geschehen in dieses Auto einsteige.

Ich ziehe die Autotür hinter mir zu und bücke mich, um meine Tasche in den Fußraum zu legen. Als ich mich wieder aufrichte und eigentlich vorhabe ihn so indiskret wie möglich nach seinem Tag zu fragen, legt sich eine kräftige Hand in meinen Nacken und zieht mich an Harrys Gesicht heran.

"Warum-" Bevor ich weitersprechen kann, küsst Harry mich schon, bringt mich zwangsläufig zum Schweigen. Zumindest so lange, bis er seine Stirn einfach nur erschöpft an meine lehnt.

"Was ist passiert?", frage ich vorsichtig und lege meine Hand auf die Wange, als ich meinen Kopf vorsichtig nach hinten ziehe, um seine Züge genauer begutachten zu können.

"Ich bin fertig", antwortet er ernst und öffnet erst jetzt wieder seine Augen.

"Mein Vater macht mich verrückt."

Ich beiße mir auf die Unterlippe. "Wie das?"

"Er stellt alles in Frage, was ich tue, und hat gesagt, dass ich auf meine Art alles in den Ruin treiben werde."

"Wirst du nicht", sage ich unüberlegt und einfach nur in der Hoffnung steckend, dass meine Worte ihn irgendwie beruhigen können.

Harry öffnet den Mund, um irgendetwas zu sagen, als uns ein lautes Hupen daran erinnert, dass wir noch immer mitten auf der Straße in seinem Auto sitzen.

Er stöhnt genervt auf, löst sich aber letzten Endes von mir, um die Handbremse zu lösen und aus dem Weg zu fahren, einfach wieder auf dem Parkplatz zu parken.

Als Harry sich seine Worte zurecht legt, ignoriere ich die am Auto vorbeigehenden Studenten, gerade ist es wichtiger für mich, zu erfahren, was genau in seinem Kopf vorgeht.

"Ich musste dich sehen", gesteht er und fährt sich schon wieder wild durch die Haare, lässt meine Hand automatisch nach seiner greifen, um ihn daran zu hindern, sich doch noch alle Haare heraus zu reißen.

Als seine plötzlich hektisch wirkenden Augen meine finden, versuche ich, ihn mit meinen zu beruhigen.

"Musst du nicht arbeiten?", frage ich vorsichtig nach, bekomme sofort eine Antwort: "Doch, verdammt. Ich wusste nicht mehr wo mir der Kopf steht und bin hierher gefahren, weil ich wusste, dass du bald Schluss hast."

"Und was hast du jetzt vor?" Unsicher sehe ich mich einen Moment auf dem Parkplatz um, schaue dann wieder zu Harry.

"Ich weiß es nicht."

Für einen Moment denke ich nach, bis ich vorschlage: "Möchtest du irgendwo etwas Essen gehen?"

Mit einem stummen Nicken sagt Harry zu und ich bete innerlich, dass er sich bald wieder beruhigen kann.

Inked. (h.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt