- Z W E I U N D N E U N Z I G -

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Die nächsten zwei Tage sind die reinste Folter für mich. Ich warte jede freie Sekunde darauf, dass diese Frau oder irgendjemand von der Polizei sich bei mir meldet, um mir irgendwie Auskunft zu geben.

Ich bin doch involviert, warum wird mir nichts gesagt?

Meine Nerven sind einfach am Ende und Harry bekommt das leider am vollen Leib zu spüren. Da er der Meinung ist, dass ich gerade zu dieser Zeit nicht alleine sein soll, habe ich vorübergehend genug Sachen mit zu ihm genommen, um eine Weile nicht in meine Wohnung zurückkehren zu müssen.

Es ist sowieso Ende des Monats und ich plane meinen Mietvertrag so schnell wie möglich zu kündigen.

Ganz abgesehen davon, bin ich ein wandelndes Nervenbündel, wie ich es noch nie in meinem Leben zuvor gewesen bin.

Als wir gegen Nachmittag zur Ablenkung einkaufen sind, weil Harry früher Schluss hat, bekomme ich meine Gedanken nicht einmal mehr so weit zusammen, um zu wissen, was ich überhaupt brauche.

Genauso wenig kann ich irgendwie über die Straße gehen, ohne wirklich jeden einzelnen Poller zu übersehen.

Harry muss auf mich aufpassen, als wäre ich ein Kleinkind, das einen viel zu großen Kopf hat, als dass es gefahrenlos durch die Weltgeschichte laufen kann.

Mit meiner Hand fest in seiner, führt er mich entspannt durch die Gänge, bleibt trotz meiner Geistesabwesenheit komplett ruhig.

Bis mein Handy klingelt.

Dann fällt nämlich auch ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht und seine grünen Augen sehen mich gespannt an.

"Moment", stammele ich und öffne überfordert meine Jackentasche, um mein Handy herauszuziehen und sofort dran zu gehen, ohne nachzusehen, wer mich überhaupt anruft.

"Hallo?", bringe ich auf gut Glück unruhig hervor und stütze mich am Einkaufswagen ab.

"Oh hallo, Miss Wrangler."

Gott sei Dank.

"Ich bin es, Joanne Watson", erklärt sie überflüßigerweise. "Ich hätte mich früher bei Ihnen gemeldet, aber es ist einiges dazwischen gekommen." Ich nicke. "Kein Problem."

"Haben Sie kurz Zeit?", holt sie aus.

"Ja- Ja- Natürlich", gestikuliere ich wild und gehe nah genug an Harry, dass er leise mithören kann, was die Polizeibeamte mit mir bespricht.

"Man könnte sagen, dass Ihr Fall abgesehen von dem Video eine ziemliche Wendung genommen hat", beginnt sie.

"Wie das?" Meine Stirn runzelt sich kritisch und ich spüre, wie Harry seine warme Hand über meine legt.

"Ich bin einige ältere Akten durchgegangen", fängt sie an, "dabei ist mir aufgefallen, dass Sie nicht die erste mit derartigen Vorwürfen sind. Vor etwa 15 Jahren war ebenfalls eine Dame beim Revier. Da war ich noch nicht im Dienst, aber es stand Aussage gegen Aussage. Sie müssen wissen, dass das Ihnen unglaublich helfen kann."

Ich war nicht die erste, hoffentlich war ich die letzte.

"Die Frau damals hatte keine Beweise; sie hingegen schon. Ihr Bekannter hatte das Video ja voraussichshalber aufbewahrt und wir es untersucht. Einen glasklareren Fall hatten wir seit Jahren nicht mehr, deswegen wird Mr. Schuster ungefähr jetzt schon von Kollegen abgeholt und in Untersuchungshaft gesteckt."

"Wirklich?", rutscht es mir in einem glücklichen und erleichterten Ton heraus. "Ja", stimmt Watson zu und ich höre an ihrem Ton, das auch sie damit zufrieden ist. Aber wer wäre das nicht?

"Normal kläre ich solche Dinge nicht telefonisch, aber ich dachte, dass es sie erleichtern wird, wenn ich es ihnen schnellst möglich mitteile."

"Da lagen sie richtig", lächle ich gelöst und spüre, wie meine Augen immer glasiger werden.

"Ich melde mich morgen noch einmal bei Ihnen, ich versuche die Frau von damals irgendwie ausfindig zu machen."

"Vielen Dank", stammele ich überwältigt und verabschiede mich von der Frau, die ich gerade am liebsten heiraten würde.

Meine Hände sind so zittrig als ich auflege, dass Harry mir mein Handy aus der Hand nimmt und schnell in seine Tasche steckt.

Er sieht mich mit so großer Zuneigung und Freude an, dass ich die ersten Tränen nicht mehr zurückhalten kann.

Harry reagiert sofort und schiebt unseren Einkaufswagen grob von uns, rempelt, da wir alleine auf diesem Gang sind, auch niemanden an - nicht das uns in einem Moment wie diesem kümmern würde. Als der Wagen uns nicht mehr stört, legt er seine langen Arme so fest um mich, wie er es noch nie getan hat.

Er umarmt mich so stark, dass meine Füße vom Boden abheben und ich meine Beine einfach nur um ihn lege, während ich mein nasses Gesicht in seine Halsbeuge drücke.

"Ich liebe dich so sehr Harry", bringe ich überglücklich hervor und richte mich an ihm auf, um ihn mit meinen nun vermutlich tiefrot unterlaufenen Augen anzulächeln.

"Ich liebe dich viel mehr", entgegnet er etwas, das mir unter wirklich allen anderen Umständen, einen Kommentar von den Lippen hätte kommen lassen. Außer jetzt, jetzt führt es dazu, dass ich meinen Mund so fest und stürmisch auf seinen drücke, dass ich uns beinahe die Zähne ausschlage und Harry dazu bringe, einen Schritt nach hinten zu taumeln.

"Du hast es geschafft", bringt er zwischen dem wohl unkoordiniertesten Kuss, den wir je hatten, hervor, worauf ich auf seine immer da gewesene Wortwahl zurückgreife: "Wir haben es geschafft."

Denn so unglaublich stupide es scheint, besteht ein großer Teil meiner Freude auch darin, zu wissen, dass ich Harry und seiner Familie helfen konnte, nicht in dieser Welt unterzugehen. Schuster kann nicht genug im Petto haben, als dass er jetzt noch mit irgendeiner krummen Sache durchkommen kann.

Kein Anwalt der Welt kann ihn aus diesem Video rausreden, das er in seiner Hochmütigkeit sowohl gefilmt, als auch behalten hat.

Niemand kann ihm noch helfen und es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass das nicht gerechtfertigt ist.

Meine Worte lösen ein unglaubliches Funkeln in Harrys Augen aus, und bringen ihn dazu, mit seinen Kratern von Grübchen einen Kuss auf meine Lippen zu drücken, bevor er sogar zu der Stelle unter meinem Ohr wandert. Seine Hände hält er fest um mein Becken geschlungen.

"Um Gottes Willen!", kommt es dann auf einmal und keiner von uns ist ignorant genug, um nicht auf diesen empörten Aufschrei zu reagieren.

Ich drehe meinen Kopf immernoch an Harry geklammert in die Richtung, in die er auf einmal mit großen Augen sieht, um es mit doppelt so großen ebenfalls zu tun.

Da steht tatsächlich die Tante von der Moralpolizei aus dem Park, die uns vor allen Leuten angeschissen hat. Neben ihr ihre in viel zu schicke Klamotten gehüllte Tochter, deren Augen von den manikürten Händen ihrer Mutter dramatisch zugehalten werden.

Auch die Frau scheint uns in grauer Erinnerung wiederzuerkennen und schnaubt verächtlich. "Sie werden wohl nie damit aufhören", sagt sie dann überraschernderweise, bevor sie mit ihrer Tochter an der Hand davonbraust und uns beide verdattert vor dem Nudelregal stehen lässt.

"Ist das grade wirklich passiert?", frage ich und sehe Harry an, der mich vorsichtig wieder auf den Boden setzt.

Wir beide schauen zu der Stelle, an der die Frau mindestens so schnell verschwunden wie auch aufgetaucht ist, bevor wir einander wieder ansehen.

"Ich denke schon", gibt auch Harry nicht ganz überzeugt zu bedenken, worauf wir uns einige Sekunden nur ansehen, dann aber beide schief grinsen und letztlich auch leise lachen.

"Ist das ein Zeichen?"

Er hört mir gespannt zu und legt seine Arme um mich, drückt einen Kuss auf meine Nasenspitze.

"Sowas von", lächelt er mich an und wischt einmal vorsichtig die Tränen unter meinen Augen weg.

Alles woran ich in diesem Moment denken kann, ist, was für eine verdammt glückliche Chaotin ich doch bin.

*Nur noch der Epilog. Am Ende noch ein paar Informationen, es wäre echt lieb, wenn Ihr die noch lest.*

Inked. (h.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt