- Z E H N -

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Immer wieder gibt es in seinem Leben diese Momente, in denen man einfach nichts weiß.

Nicht, dass man nur die Antwort auf eine Frage nicht weiß, oder dass man nicht weiß, was genau man tun sollte. Nein, man weiß einfach nichts.

Weder weiß ich, was ich gerade denke, noch was ich tun soll. Das einzige was ich weiß- was mir aber nicht hilft- ist, dass gerade ein wahrscheinlich ein paar Jahre älterer Mann mich gegen die klemmende Tür drückt, dabei mehr oder weniger umarmt und in meiner Halsbeuge nach Atem sucht; nachdem ich mich einfach von ihm habe küssen lassen.

Meine inzwischen wieder freien Hände liegen unbeholfen auf den in einem teuren Hemd gekleideten Oberarmen, von denen zu behaupten ist, dass sie mehr als muskulös sind.

Gerade als ich wieder halb bei Sinnen bin, entfernt der Braunhaarige sich wieder von mir, seine Haare kitzeln dabei an meinem Hals. Seine Hände liegen auf meiner Hüfte und vermitteln mir dabei das Gefühl, mich festzuhalten, nicht nur auf die rein physische Weise, sondern auch auf die Art, wie Jo mich festhält, wenn er mich in den Arm nimmt und wieder aufbaut.

"Ich", möchte ich anfangen etwas zu sagen, stocke dabei aber, da ich nicht weiß, was ich sagen soll.

Der Mann mir gegenüber scheint abzuwarten, was ich zu sagen habe. Dabei macht er keine Anstalten sich von mir zu lösen, sondern schaut mir lediglich tief in die Augen, beisst sich dabei auf die Unterlippe.

"Ich", beginne ich wieder werde aber bevor ich weitersprechen kann von der Türklinke hinter mir erschreckt; sie bewegt sich schnell nach unten, sodass sie mir unsanft am Rücken entlangschleift. 

Als ich schmerzhaft aufzische, ziehen die zwei Hände mich blitzschnell von der Tür weg, fest an sich heran. Ich bin aber zu erschrocken, weswegen ich sofort einen großen Satz mache und mich ein Stück von ihm entferne, dann an meiner Schreibtischplatte abstütze.

*+*+*+*

Etwa zwanzig Minuten voller unangenehmer Stille später öffnet sich die Tür, ein verwunderter Cas steht uns mit dem Hausmeister entgegen, der wahrscheinlich extra hergefahren ist, um das Problem mit der Tür zu lösen.

"Danke", ich greife sofort nach meiner Tasche und gehe einige Schritte aus dem Raum, sodass ich mitten in dem großen Raum stehe, der von Rezeption und einigen Sofas gefüllt wird.

Ich höre wie Cas sich mit dem Hausmeister unterhält, wahrscheinlich bei ihm beschwert und ihm aufträgt, diese Tür auszubauen.

"Hey." Ich werde sanft von hinten angetippt. Harry.

"Entschuldigung ich musste einfach nur raus", erkläre ich mich und streiche mir meine Haare aus dem Gesicht. Harry trägt bereits seine Jacke, besser gesagt seinen Mantel, hat einen Schal locker um den Hals gelegt.

"Verständlich." Er nickt. Wir haben seit Cas uns mehr oder weniger entdeckt hat fast nicht miteinander gesprochen, lediglich schweigend auf den Hausmeister gewartet.

"Ich will jetzt eigentlich nur nach Hause", meine ich und wische ein weiteres Mal meine Haare aus dem Gesicht, um dann meine Hand wieder fest an meine Tasche zu legen und diese an mich zu ziehen.

"Ich hoffe nur, dass du zeitlich nicht in Verzug bist, schließlich bin ich es ja mehr oder weniger Schuld, dass wir engesperrt waren", entschuldige ich mich peinlich berührt für diese ganze Situation, die wieder danach schreit, dass sie mir passiert ist.

"Das ist kein Problem, wahrscheinlich hätte ich sowieso nur wieder unnötige Überstunden von zu Hause aus gemacht. Mach dir keinen Kopf deswegen." Er lächelt mich kurz wohlwollend an, steckt seine Hände in seine Manteltaschen.

Mein Blick verharrt kurz in seiner Bewegung, bis ich wieder aufschaue und mich ein wenig ertappt fühle. Harry grinst nur.

"Ähm ... ich glaube ich sollte gehen." Ich schaue einmal kurz zur Eingangstür, dann wieder zu Harry.

Aus Anstand sollte ich vielleicht zu Cas und dem Hausmeister gehen, um mich bei ihnen zu bedanken, aber ehrlich gesagt sehe ich das im Moment nicht ein, da ich mir am einreden bin, dass sie Schuld an dem, was da drinnen passiert ist, sind. Natürlich sind sie das nicht, das weiß ich ja, aber ich möchte einmal jemand anderem die Schuld zuschieben und nicht selbst darauf sitzen müssen.

Ich schaue auf und sehe, wie der Braunhaarige mir auffordernd die Ladentür aufhält, mich mit einem Nicken bittet, herauszutreten. Da ich es nicht gewohnt bin so behandelt zu werden, verstehe ich dies erst, als er mich laut darauf aufmerksam macht: "Komm schon Lou, ich kann nicht ewig die Tür aufhalten." Wider Erwarten sagt er das nicht in einem spottenden Ton, der mir vermitteln würde, wie dumm ich mich anstelle, sondern mit einem einfach nur minimal amüsierten aber auch gutmütigen Lächeln, das vor Ehrlichkeit strotzt.

"Ja, natürlich. Danke." Ich gehe durch die doppelflügelige Tür, von der mir eine Seite aufgehalten wird. Laufe dabei fast gegen den Türpfosten, weil ich mich nicht an Harry vorbeipressen möchte und dabei wohlmöglich eine unangenehme Situation entstehen lassen.

Als ich einige Meter auf den Gehweg gegangen bin, drehe ich mich noch einmal zu Harry, der die Tür hinter sich zu fallen lässt, um. "Vielen Dank." Ich nicke, um meine Worte zu bestärken.

In der Dunkelheit kann ich sein Gesicht nur schemenhaft erkennen, weswegen ich leicht irritiert warte ob und was er zu sagen hat. "Immer doch." Auch er nickt einmal, dabei kann ich die Reflektion der Straßenlaterne in seinen trotz der Dunkelheit strahlenden Augen erkennen.

"Gute Nacht Lou."

"Gute Nacht Harry."

*+*+*+*

"Ich schwöre bei Gott, ich schneide ihm den-", wütet Jo gegen Harry.

Es ist bereits Freitag Abend und wir sitzen gemeinsam in seiner Wohnung auf dem Sofa. Bisher habe ich versucht ihm die Sache von Mittwoch zu verheimlichen, ich kenne ihn schließlich und weiß wie er auf verschiedene Situationen reagiert. Auch habe ich Harry seither nicht gesehen, weswegen es eigentlich keinen Grund für mich gab, ihm davon zu erzählen.

Letztendlich hat dann aber nach knappen zwei Tagen doch mein Gewissen gesiegt und mich dazu gebracht, es ihm zu erzählen.

Das war vor etwa fünf Minuten.

Seitdem beleidigt er den Mann wüst und tut auch seinen Haarwurzeln keinen Gefallen, denn er reisst sich regelrecht aufgebracht an vereinzelten Strähnen.

"Vielleicht hat er sich nur einen Spaß erlaubt", beruhige ich meinen besten Freund und versuche ihn durch meine ausgestrahlte Ruhe dazu zu bringen, ruhig auf dem Sofa sitzen zu bleiben, nicht wütend zu sein.

"Das wäre noch schlimmer!" Er reisst sich wieder an den Haaren, ich zucke mit den Schultern.

Als Jo letztendlich aufstehen möchte, wahrscheinlich seinen Wutanfall, der definitiv nicht gegen mich gerichtet ist, noch mehr ausarten lassen möchte, sehe ich mich dazu gezwungen, mich wie ein kleines Mädchen auf ihn zu stürtzen. Dabei klammere ich mich fest um seinen Oberkörper und drücke meine Wange fest gegen ihn.

Blitzartig beruhigt Jo sich ein wenig und vergisst seinen Plan aufzustehen, ist aber immer noch merklich angepisst. Auch als er mich zurückumarmt weicht diese Stimmung nicht aus seiner Umgebung.

"Morgen kannst du dich genug aufregen." Ich schaue einmal kurz auf, umarme ihn dann aber erneut.

"Wenn deine Mutter auf Dianas Beerdigung etwas sagt, dann raste ich vollkommen aus", bemerkt er sofort. Ich kann nur über seinen Ton schmunzeln und mich wieder auf dem Sofa zurücklehnen und weiter auf den Fernseher schauen.

Dabei habe ich stets im Hinterkopf, was mir morgen bevorsteht.


*Vielen Dank für 84 Reads und 39 Reads, das bedeutet mir echt viel :)*

Inked. (h.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt