Das Packen hat mit Harrys 'Hilfe' wesentlich länger gedauert als gedacht. Er hat sich keine Gelegenheit nehmen lassen, bei der Suche nach einer bestimmten Hose immer wieder in die untere Schublade abzurutschten und lieber dort danach zu suchen. Das ganze ist so weit gegangen, dass ich am Ende seine scheinbare Lieblingsschublade in der gesamten Wohnung mit meinem Fuß blockiert habe, damit er nicht noch mehr in meiner Unterwäsche wühlen kann.
Beim nächsten Versuch von der Suche abzukommen, hat er dann eine Schnute gezogen, die ich gekonnt ignoriert habe.
Wie auch immer es so weit kommen konnte, hat es ganze 10 Minuten gedauert, bis ich die Hose in meiner eigentlich wirklich beschaulichen Auswahl gefunden habe und sie einpacken konnte.
Bevor wir zu Harry gefahren sind, hat er mich praktisch dazu genötigt, meinen Mietvertrag und so weiter zusammenzusuchen, damit wir sehen können, wie das ganze aussieht.
Bei ihm hat er dann wie im Wahn darauf bestanden, sofort durch die Papiere zu gehen. Es ist alles, dass er nicht sofort einen Umzugswagen gerufen hat, um meine Wohnung leer räumen zu lassen.
Mit dieser Eifrigkeit habe ich ihn permanent aufgezogen, aber keine wirkliche Reaktion von ihm bekommen.
Diese Art von Harry hat mich die ganze Zeit ablenken können und genau dafür könnte ich ihm nicht dankbarer sein. Den USB-Stick habe ich den ganzen Abend in meine hintersten Gedanken verdrängt, sodass ich mich keine einzige Sekunde mehr damit beschäftigt habe.
Genauso wenig habe ich darüber nachgedacht, den Kreis der Eingeweihten zu erweitern. Ich glaube es ist das beste, wenn dieser Plan erst einmal unter uns drei bleibt. Vor allem soll das Ganze so schnell ablaufen, dass es kaum Sinn machen würde, jemandem vor dem Endergebnis darüber Bescheid zu geben.
Am nächsten Morgen in der Uni sitze ich wieder wie üblich neben Liam, der nicht groß nachfragt, warum ich gestern nicht da war.
Ich habe die Vermutung, dass er wieder geschwänzt hat und es deswegen nicht gemerkt hat.
Bei der Arbeit drehe ich quasi Däumchen, wann Harrys Anwalt anruft und das 'go' gibt. Er wollte nämlich heute Morgen mit Jo alles besprechen, wie genau er erzählen soll, dass er an den Stick gekommen ist.
Theoretisch könnte Jo heute also schon zum Revier, um das Ganze mit Officer Watson zu klären. Sie wollte sich sowieso bei ihm melden, also ist es nicht abwegig, dass ich ihm schon davon erzählt habe und er kurzfristig beschließt, ohne einen Anruf ihrerseits dort aufzutauchen und seine Aussage zu machen.
Und wie ich Jo kenne, wird er damit nicht zögern.
Was mache ich mir vor, genau jetzt sitzt er sehr wahrscheinlich bei dieser Frau im Büro und spricht mit ihr über die Nacht.
Ein anderer Vorteil wäre wenn es so schnell geht natürlich noch, dass Schuster dem Plan nicht auf die Schliche kommen, also absichtlich noch größeres Unheil anrichten kann, als er es sowieso schon hat.
Mit dem wechseln der Stunde, stehe ich pünktlich zum Ende meiner Arbeitszeit auf und verlasse das Studio fast schon fluchtartig, widerstehe aber der Versuchung, Jo anzurufen. Demnach wo er sich gerade befindet, ist es nicht von Vorteil.
Ich sehe nur eine Nachricht von Harry, die sagt, dass ich zu ihm kommen soll, weil Jo auch da ist.
Damit hat sich dann alles wohl so ziemlich geklärt und ich habe einen Grund wie von der Tarantel gestochen durch die Straßen zu hechten. Zum Glück liegt Harrys Wohnung näher am Studio als meine es tut.
Ich kassiere einige verwirrte Blicke, weil ich fast über meine eigenen Füße stolpere, aber es könnte mir gerade nicht gleichgültiger sein. Ich muss einfach wissen, was genau da gesagt wurde und ob jetzt schon irgendetwas passieren wird, das Schuster einen Schritt näher vor Gericht bringt.
"Hey", grüßt Harry mich sanft, als er seine Wohnungstür öffnet, macht einen halben Schritt raus, um mich in den Arm zu nehmen und kurz aber intensiv zu küssen.
"Hey", flüstere auch ich und spüre im nächsten Moment seinen Arm, der sich um meine Taille legt, und mich in seine Wohnung führt.
Anscheinend ist nicht viel Zeit zum Reden.
"Hallo Jo", begrüße ich den Braunhaarigen, der am Küchentisch sitzt und nehme ihn ohne Nachfrage einmal fest in den Arm. Ich kann förmlich riechen, dass er sich einen dummen Kommentar zu unserer letzten Begegnung unterdrückt.
"Hallo Lou." Er drückt mich einen Moment, lässt dann aber ab, um mich mit zwischen den Zähnen geklemmter Unterlippe anzusehen.
"Und?" Ich öffne meine Jacke ihn abwartend anstarrend und erschrecke fast, als jemand sie mir von hinten über die Schultern zieht. Mit einem Seitenblick bedanke ich mich bei Harry, der sie über einen der leeren Stühle hängt.
"Ich war bei Officer Watson", erzählt Jo. "Ja, das habe ich mir schon gedacht." Ich schmunzle unsicher und setze mich auf einen der Stühle, Harry setzt sich gegenüber von mir hin und sieht Jo genauso neugierig an, wie ich es tue.
"Ich habe ihr das erzählt, was ich mit Mr Atkins" - Harrys Anwalt - "geklärt habe. Also, dass ich das Video damals schon bekommen habe, und es als Beweis behalten habe für den Fall, dass du jemals zur Polizei gehen wolltest."
"Was hat sie dazu gesagt?" Meine großen Augen versuchen jede kleine Veränderungen seiner Mimik zu deuten, so ungeduldig bin ich gerade.
"Dass das gut war - mehr oder weniger. Auf jeden Fall hat sie das Video jetzt und hat mir versichert, dass es so bald wie möglich ausgewertet wird."
Ich schiebe beiseite, das irgendjemand Fremdes dieses Video zu Gesicht bekommen wird und frage stattdessen: "Und dann?"
"Sie hat nichts genaues gesagt, sie ist keine Richterin. Aber sie hat mir versichert, dass sie der Sache auf den Grund gehen."
Ich nicke. Dabei habe ich keine Ahnung, ob ich zufrieden oder enttäuscht sein soll. Vermutlich eher zufrieden, denn wer weiß wie viele nicht einmal so weit kommen und ein Verbrechen nachweisen können.
"Er gehört weggesperrt", wirft Harry in die kurze Stille ein, worauf er unsere vollkommene Zustimmung bekommt. Ich kenne niemand anderes, der einen langen, ereignisreichen Gefangnisaufenthalt mehr verdient als unser guter Simon Schuster. Er ist einfach nur ein arrogantes Arschloch, das bisher mit allem in seinem Leben durchgekommen ist.
Dann soll er nicht noch damit durchkommen, eine ganze Firma in den Bankrott zu stürzen. Genug ist genug.
"Sie wollte sich noch bei mir melden", meine ich ruhig und sehe sowohl Jo als auch Harry an. "Wäre jetzt nicht eigentlich der Zeitpunkt dafür?", frage ich weiter.
"Sie weiß, dass du von dem Stick weißt. Vielleicht wartet sie noch ab, bis sie zu einem Zwischenergebnis gekommen sind", entgegnet Jo konzentriert, worauf ich nur leise nicke.
Bitte Gott, lass eine Sache in meinem Leben problemlos verlaufen.
*Noch ein Kapitel und der Epilog. Das Ende ist jetzt schneller da als erwartet, entschuldigt. Ich ziehe es bis heute Abend durch, deswegen kommt das letzte Kapitel gegen 18 Uhr und der Epilog um 20 Uhr.*
DU LIEST GERADE
Inked. (h.s.)
Hayran KurguDie Kunststudentin Lou ist der Inbegriff von einem Tollpatsch und bezeichnet sich selbst gerne als einen der seltsamsten Menschen der Welt; Harry ist CEO eines großen Konzerns und entflieht seinem stressigen Arbeitsalltag im Tattoo-Studio. Man könnt...