"Um Gottes Willen." Jo dreht seinen Kopf zur Seite und ich lache leicht über seine weibische Reaktion auf diese Filmszene. "Du bist so ein Mädchen", Joseph, meine ich und boxe ihm leicht gegen die Schulter im Versuch, ihn dazu zu bringen, sich wieder dem Fernseher zu zu wenden, doch scheitere kläglich.
"Nenn mich wie du willst", schmollt er und steht kommentarlos auf, als etwa im gleichen Moment seine Haustür klingelt, besser gesagt die Sprechanlage davon.
Ich behalte meine Augen auf dem Fernseher während er sich darum kümmert, kann aber nicht vermeiden, dass ich mit einem Ohr zuhöre.
"Harry?", höre ich ihn nur laut fragen und das gibt mir Grund genug, schon vom Sofa aufzustehen und innerhalb kürzester Zeit seine Richtung anzusteuern. Harry scheint das gleiche zu Verlangen, denn nach kurzer Stille winkt Jo mich zusätzlich zu sich.
Meine Vermutung geht dahin, dass ich Harry nicht Bescheid gesagt habe, weswegen ich mir unsicher auf die Unterlippe beiße, als ich an die Sprechanlage herantrete. "Ja?"
"Gut Lou. Ähm- ich bin hier mit deinem-" Harry wird von einer anderen Stimme unterbrochen: "Gut, dass du hier bist Lou." Jo und ich schauen gleicherlei verdutzt beim Klang der Stimme meines Vaters, die kein Stück vorwurfsvoll klingt, so wie ich es für unsere nächste Begegnung vorhergesagt habe.
Weiß er noch nicht, dass ich meine Mutter geschlagen habe?
"Können wir nach oben kommen?", höre ich gerade so die Stimme meines Vaters wie durch einen Schleier sagen, als ich den sich versteifenden Jo von der Seite anschaue. Meine Augen suchen hilflos Jo, die mir keine Antwort auf die Frage bieten, sondern sagen, dass es an mir liegt, die Antwort in den Raum zu stellen.
"O-okay", stammele ich verloren und drücke nervös auf den Knopf, der die Tür ganz unten entriegelt. Bevor die Leitung eingehängt wird, höre ich Harry noch undeutlich etwas zu meinem Vater sagen, kann aber nicht weiter erkennen was genau es ist. Nicht einmal seine Stimmlage kann ich deuten.
"Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl", kommentiert Jo das ganze nur und versucht sichtlich, sich wieder zu beruhigen. "Warum kommen sie zu zweit hier hin?", frage ich nur laut und streiche mir nervös durch die Haare, ziehe förmlich an einzelnen Strähnen, um meinen sich gerade stetig steigernden Stress irgendwie ansatzweise abzubauen.
"Komm her." Ohne mich weiter in Unruhe zu bringen, öffnet Jo seine Arme für mich, sodass ich mich dankend in einer seiner Umarmungen wiederfinden kann. Die Momente bis mein Vater kommt, nutze ich aus und drücke mein Gesicht fest in seine Brust hinein, während er mir vorsichtig über den Rücken fährt. "Wenigstens ist deine Mutter nicht hier", versucht er das ganze irgendwie besser klingen zu lassen, doch merkt schnell selbst, dass es nicht so wirklich funktioniert. Also legt er stumm seinen Kopf auf meinem Kinn ab.
Das erneute Klingeln, dieses Mal nur direkt an der Wohnungstür, löst unsere Umarmung automatisch. Mit einem filigranen, aber trotzdem aufmunternden Lächeln geht er zur Haustür, um sie zu öffnen.
Zum Glück ist nicht mein Vater der erste, der hereinstürmt, sondern Harry, der mit einem unbehaglichen Gesichtsausdruck Jo grüßt und ihn entschuldigend ansieht. Vermutlich ist das, was er unten mit meinem Vater besprochen hat.
Als er weit genug rein gekommen ist, um mich zu erkennen, sieht er auch mich so an, aber ich reagiere anderweitig und nehme ihn unbekümmert von den Umständen fest in die Arme. Er streicht meine Haare nach hinten und drückt einen kleinen Kuss auf meine Stirn.
Obwohl er sich wenig später aus der Umarmung löst, nimmt er meine Hand für einen Moment.
Erst jetzt fällt mein Blick auf meinen Vater, der wirklich miserabel aussieht. Seine Augen fallen alleine beim Anblick schon fast zu und werden von den dunklen Augenringen quasi verdeckt. Sogar sein Anzug sitzt nicht mehr zu hundert Prozent und das ist etwas für ihn vollkommen untypisches.
"Ich wollte sie nicht schlagen", lüge ich sofort und mache einen Schritt nach hinten, weil ich mit so ziemlich jeder Art von Reaktion rechne, als er mich so ansieht. Harrys Hand drücke ich dabei fest in meiner.
"Sag das nicht, sie hat es verdient", meint er und lässt mich noch ängstlicher werden. Als er das bemerkt, fügt er sofort hinzu: "Ich bin nicht deswegen hier- nicht weil du sie geschlagen hast."
Er sieht unsicher zu Jo und Harry, die neben mir wohl wie eine Art Mauer auf ihn wirken müssen.
"Weswegen dann?" Ich schlucke und bleibe nur halbwegs ruhig, weil Harry mit seinem Daumen sanft über meine Fingerknöchel streicht.
Mein Vater sieht Harry und Jo einen Moment an, überlegt anscheinend, bis er seufzt und wage zugibt: "Deine Mutter hat mir etwas erzählt, was sie schon vor Jahren hätte sagen sollen." Er muss nicht genauer darauf eingehen, damit ich weiß, was genau er meint. Ich beiße mir nur auf die Unterlippe und spüre wie es Jo und Harry genauso geht. Diese zwei sind bisher nur die einzigen, die offiziell davon gewusst haben. Natürlich abgesehen von meiner Mutter, die mir kein Wort geglaubt hat.
Ich kann nicht anders als zu schlucken und trocken zu fragen: "Und jetzt?" Denn wie stellt er es sich vor? Er hat fast verdammte drei Jahre nicht einmal ansatzweise hinterfragt, warum meine Mutter mich permanent als Lügnerin beschimpft. Genauso wie der ganze Rest dieser Bagage hat er geglaubt, was von allen anderen erzählt worden ist, und nicht einmal versucht mit mir darüber zu reden.
"Können wir bitte darüber reden", bittet er und macht vorsichtig einen kleinen Schritt auf mich zu; dieses Mal weiche ich nicht weiter zurück. "Ich stehe im Unrecht, so weit, dass es nicht mehr vertretbar ist – ja. Aber bitte Louisa, ich möchte nur einmal mit Dir darüber sprechen." Ich beiße mir fest auf die Unterlippe und starre wie gebannt in die flehenden Augen meines Vaters. Auch wenn ich es möchte, kann ich mich nicht dazu überwinden, Harry oder Jo für einen Moment anzusehen, um deren Stellung bezüglich dieser Bitte herauszufinden. Stattdessen sehe ich nur meinem Vater genauestens in die Augen.
"Warum jetzt?" Ich schaue kurz auf den Boden herab, dann aber wieder nach oben, als versuche ich damit, auch meinen Stolz beizubehalten.
"Weil ich vorher zu dumm war", sagt er etwas, das ich nie im Leben aus seinem Mund erwartet hätte. Sonst ist er ziemlich selbstsicher und selbstbezogen, würde wohl niemals einen Fehler eingestehen.
"Ich habe deiner Mum", er stockt und verbessert sich, "deiner Mutter die Zeit gegeben, ihre Taschen zu packen." Spätestens da steht mein Mund ein wenig offen. Auch Jo muss jetzt mehr als überrascht aussehen; Harry hingegen hat anscheinend davon gewusst, denn er rührt sich nicht einmal ein kleines Stück.
Mit dieser Aussage, lasse ich von Harrys Hand ab, um einfach nur so da zu stehen, ohne irgendetwas weiteres zu tun. "Das hast du nicht", stelle ich klar.
"Doch, habe ich. Als sie es mir erzählt hat. Das mit dir und Susie; habe ich es sofort getan."
"Bitte", wiederholt er aufrichtig und ich nicke ein einziges Mal, drehe mich entschuldigend zu Harry und Jo, die sofort einen Schritt zur Seite gehen. "Wo möchtest du reden?", frage ich meinen Vater nur leise.
Mit einem schlagartig aufgehellten Ausdruck, stammelt er: "Hier- Draußen, es ist mir egal." Das leicht abgeschaffte Lächeln auf seinen Zügen, lässt mich seltsamerweise ebenfalls leicht lächeln.
Ob das eine gute Idee ist.
*Gleich noch ein Update.*
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Inked. (h.s.)
FanfictionDie Kunststudentin Lou ist der Inbegriff von einem Tollpatsch und bezeichnet sich selbst gerne als einen der seltsamsten Menschen der Welt; Harry ist CEO eines großen Konzerns und entflieht seinem stressigen Arbeitsalltag im Tattoo-Studio. Man könnt...