Klappe 29: Manhattan ~ Dinkel öffne dich

2.5K 170 25
                                    

In dem Moment hatte ich das Gefühl, dass meine Augen so groß wurden, dass sie jeden Moment durch ihr ansteigendes Gewicht mein Gesicht zur Erde ziehen würden; als ob jemand die Anziehungskraft nur in meinem Gesicht verstärkte. Ein neues Bild breitete sich vor meinem inneren Auge aus. Ich sah mich, wild kichernd, mitten im Raum als Koboldmaki wieder. Meine (in meiner Selbstwahrnehmung) Koboldmaki-Augen taxierten die Ziege vor mir, die von Harry an einer Leine durch die Tür gezogen wurde, hinter der Jared vorhin verschwunden war, um Getränke zu holen. Langsam schrumpften meine riesigen Augen wieder auf normale Größe zurück und ich verwarf die Vorstellung, ein menschliches U-Boot zu sein, das ein Fernrohr aus dem Korpus ausfahren konnte.
Oh Gott, die Getränke mussten es in sich haben, dass ich permanent mit meinem inneren Auge sah und Vergleiche anstellte. Nicht nur Getränke, sondern auch ich hatte etwas in mir. (Nein, nichts Unanständiges, kicherte meine innere Stimme.) In mir war eine aufsteigende Panik, die mich bei dem Anblick der Ziege plötzlich übermannte. Jeder wusste, was auf ein Tier wartete, das in die Küche gebracht wurde. Vor allem bei einer Küche, in der ein McDonalds-Koch darauf wartete, Big Macs zuzubereiten. An meinem Geburtstag durfte niemand sterben! Vor allem keine Tiere. Meinetwegen durften sie Louis schlachten. Das würde ich sogar begrüßen, da ich noch nie Ratatouille gegessen hatte, ganz zu schweigen von RataLouis.

„Niall." Ich stupste den neben mir stehenden Niall etwas zu fest in die Seite, sodass er leicht aufstöhnte. „Was passiert mit der Ziege?"

Nialls etwas erzürnter Blick wurde weicher, bis Verwirrung an die Stelle trat. „Welche Ziege?"

„Verarsch mich nicht, Niall. Die Ziege da hinten." Ich deutete mit dem Finger Richtung Tür, aber Niall zeigte weiterhin kein Zeichen von Erkenntnis und nippte mit unschuldigem Blick an seinem Glas. Meine etwas verengten Augen folgten seinen Bewegungen und ich spürte, wie es mir in den Fingern juckte, das Glas aus seiner Hand zu schlagen, ihn an seinem Hemdkragen zu packen und damit seinen Kopf in Richtung der Tür zu lenken. Erneut spielte sich vor meinem inneren Auge eine alternative Möglichkeit ab: ich schnappte mir sein Glas, zerbrach es an der Tischkante zu einem Stummel aus spitzen Scherben, mit denen ich Niall den Kopf abtrennte und diesen dann zur Küche warf. So sah er nicht nur in die richtige Richtung, sondern war auch dort. Außerdem hatte die Ziege dann gleich etwas zu futtern. Vielleicht würde sie Nialls Kopf aufgrund der ähnlichen Größe auch für eins ihrer Zicklein halten und als solches aufziehen. Die Vorstellung, wie sie Niall säugte und er an ihren Zitzen trank... Instinktiv drückte ich meine Augen zusammen und verzog mein eben noch verwirrtes Gesicht zu einer Maske des Ekels und der Abscheu. 

Ich bekam nicht mehr mit, dass Niall mich erst ratlos beobachtete und dann unschlüssig nach rechts und links sah, vermutlich auf der Suche nach mentaler Unterstützung.

„Megan?" Er trat näher an mich heran und streckte unschlüssig die Hand in meine Richtung aus. Anscheinend wusste er überhaupt nicht, was er mit mir anzufangen hatte. „Weinst du etwa?"

Seine Hand legte sich endgültig auf meine Schulter und strich vorsichtig und beinahe zärtlich von rechts nach links. Entweder sollte das ein Tätscheln sein oder er verwechselte mich mit einer Tafel. Meine (nicht vorhandenen) Tränen konnte er nicht einfach wie Kreide wegwischen.

Als ich begriff, dass Nialls unbeholfene Gesten mein Kopfkino beendet hatten, fing ich an, laut zu lachen. „Ach Quatsch mit Soße", lachte ich und griff nach Nialls Glas, das ich zugleich leer trank. Als ich wieder aufsah, weiteten sich meine Augen erneut. Ich hatte soeben von Niall getrunken. Er hatte mich sozusagen wie die Ziege in meinem Kopfkino von seiner Flüssigkeit trinken lassen. Der Gedanke war zugleich verstörend und pervers. „Wieso war da eben eine Ziege? Schieß los!", forderte ich bohrend und sah Niall tief in die Augen, in denen ich wieder die Verwirrung von vorhin lesen konnte. Ich bekam beinahe Mitleid mit dem armen Jungen.

This Is Us + MeganWo Geschichten leben. Entdecke jetzt