Klappe 28: Manhattan ~ Gaumenfreuden

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Kennt ihr diese Situationen, die ich metaphorisch immer als Schneemann-Situation bezeichne? Man ist vor Schreck plötzlich total erstarrt und blass im Gesicht, aus dem sämtliches Blut entwichen ist. Gleichzeitig fängt man vor Anspannung an zu schwitzen und sieht zusammen mit der Blässe wie ein in der Sonne schmelzender Schneemann mit Fieber aus. Dazu kommt, dass die Blicke der Umstehenden einen zu durchbohren scheinen und man das Gefühl bekommt, nackt wie ein Schneemann vor ihnen zu stehen. Außerdem überlebt ein Schneemann den Winter nicht, weswegen er nie Geburtstag hat. 

Passend, richtig?

Mein poetisch veranlagtes, mentales Ich sollte wirklich lieber in einer Vorlesung oder Talk Show sitzen und ein Schmähgedicht über Donald Trump oder den Klimawandel vortragen, anstatt inmitten von freudig strahlenden Menschen zu stehen, die als Sonnenscheine mein ganzes Schneemann-Selbstbewusstsein wegzuschmelzen schienen.

Meine Mutter gab mir von hinten einen kleinen Schubs gegen den Rücken, sodass ich unbeholfen einen weiteren Schritt in das riesige Wohnzimmer stolperte. Als mir bewusst wurde, dass ich Beine hatte und demnach kein Schneemann sein konnte, wurde ich wieder Herr (oder Frau) über meinen Körper. Meine Mutter stand mittlerweile neben mir und sah zwischen mir und der Menschenmenge, die ich noch als undefinierbare Masse wahrnahm, hin und her. Der Fluchtweg war also frei. Statisch lächelnd bewegte ich mich zentimeterweise nach hinten und überlegte mir die Möglichkeiten, von dort zu fliehen.

Erste Möglichkeit: Ich rannte zur belebten Hauptstraße und fuhr per Anhalter durch die Galaxie. Zur Not würde ich mein Kleid obenrum herunterziehen, um mir eine Mitfahrgelegenheit zu klären. Der Nachteil war, dass das einiges an Zeit in Anspruch nahm und man mich in der Wartezeit sicherlich Partynappen würde.

Zweite Möglichkeit: Ich brachte alle um. Einfach, aber effektiv. Nur meine Mutter sollte nicht sterben, sodass auch mein zweiter Plan einen Haken hatte. (Manche Angler würden mich sicher beneiden.)

Dritte Möglichkeit: Ich lief einfach wie ein Stier geradeaus, bis ich mit dem Kopf gegen etwas Hartes knallte und außer Gefecht gesetzt wurde. Allerdings bestand dabei das Risiko, entweder eine fette Beule oder ein noch gestörteres Selbst zu bekommen. Klar, Narben waren stolze Zeichen für Mut und Tapferkeit und vielleicht wirkte ich mit der Narbe wie ein menschliches Einhorn, aber falls die Beule etwas länger bleiben und ich in naher Zukunft meinen Führerschein machen oder meinen Pass erneuen würde, wäre ich dazu gezwungen, jedes Mal gegen etwas zu laufen und die Beule zu erneuern, damit man mich erkannte. Naja, vielleicht auch nicht, aber eigentlich wollte ich nicht gerne gegen etwas laufen, weswegen mir mein Inneres unsinnige Gründe dagegen lieferte.

„Ach ist das schön, Meggie mal sprachlos zu erleben."

„Louis, halt die Kl-... Louis?" 

Das erste Mal versuchte ich, die Menge um mich herum bewusst wahrzunehmen. Die ersten Gesichter erkannte ich nicht, was mich auch nicht weiter verwunderte. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Party relativ spontan geplant war und es grenzte an ein Wunder, meine im ganzen Land verteilten Freunde binnen weniger Tage zu versammeln. Und eine Party lebte von der Personenanzahl. Umso überraschter musste ich aussehen, als mein Blick anstatt an Louis an einem sommersprossenübersäten Gesicht hängenblieb. Ihre braunen, welligen Haaren waren wie jede Minute ihres Lebens offen und auch ihr Pony, der immer ein wenig zu lang und überraschenderweise glatt war, hing schräg über ihre etwas zu große Stirn. Sie sah alles andere als perfekt aus, doch in dem Moment kam sie mir so wunderschön wie keiner im Raum vor. Das erste Mal seit der Tour bemerkte ich in jeder Faser meines Körpers, wie sehr ich meine beste Freundin Samantha vermisst hatte. Jede einzelne ihrer Sommersprossen hatte ich vermisst.

„Sammy!", schrie ich inbrünstig und war zunächst bei ihrem Anblick noch zu paralysiert, um mich zu bewegen. Deswegen schüttelte ich nur mit offenem Mund meinen Kopf und ignorierte den Gedanken, dass in dem Moment wahrscheinlich jeder in den Genuss kam, meinen Gaumen zu bewundern. Aber das konnte mir egal sein. Mein Gaumen war normal und gewöhnlich. Womöglich besaß ich, ohne es zu wissen, ein wunderschönes Gaumenzäpfchen, das den Anwesenden imponieren und meinen peinlichen Anblick entschuldigen würde. Vielleicht war auch ein prominenter Modelscout anwesend und erkannte das Modelpotenzial meines Gaumens, sodass mein Gaumenzäpfchen womöglich zukünftig in einigen Werbespots zu sehen sein würde.
Memo an mich: Lasse ein Foto oder Porträt deines Gaumens anfertigen, um diese These zu überprüfen. 

This Is Us + MeganWo Geschichten leben. Entdecke jetzt