Klappe 43: Mexiko-Stadt ~ Vom Freiheitsengel zum gefallenen Grasschweinchen

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Als Kind oder Teenager war es mit den eigenen Träumen und Zielen so eine Sache. Einerseits verfügte man noch über das naive Selbstbewusstsein und den unerschütterlichen (Irr)Glauben, dass man alles erreichen und werden konnte, was man sich in den Kopf setzte. Und selbst wenn man Flausen, also Unsinn und Spinnereien, im Kopf hatte, so dachte man, dass man zur Spinne werden konnte, um entweder als Spiderman die Straßen Queens von Verbrechern zu säubern oder einfach nur Spinnennetze zu weben, damit süße Jungs einem ins Netz gingen.

Jedenfalls wurzelte bei vielen Kindern der sogenannte amerikanische Traum tief, während sich der kindliche Horizont zumeist nur bis zur Volljährigkeit erstreckte. Vielleicht war ich auch einfach ein besonderes Kind gewesen, aber mich hatte immer die feste Überzeugung erfüllt, dass man nach dem Erreichen seiner Volljährigkeit sein eigener Herr war. Immerhin verließen die meisten den heimatlichen Hafen und zogen in eine eigene Wohnung oder zumindest in ein eigenes Studentenzimmer, wo sie ihren eigenen Regeln folgten.
Für mich war ein eigener Kühlschrank das treffendste Symbol für die neue Erwachsenenposition: Denn wer einen Kühlschrank besaß, erwarb sich die Verfügungsgewalt über Essen und Trinken. Beide Dinge waren überlebenswichtig und wenn jemand folglich über Leben und Tod entscheiden konnte, sprach das doch deutlich für die eigene Macht.

Da ich die letzten Wochen auf einem Kontinent unterwegs gewesen war, auf dem ich juristisch als volljährig galt und viel Zeit für mich hatte, hatte ich mich ziemlich an meine Freiheit gewöhnt. Ich hatte frischen, unabhängigen Duft geschnuppert und meine Flügel ausgebreitet (bis auf meine Chicken Wings). Zwar hatte ich aufgrund meiner Angst vor Vögeln noch nie versucht einen einzufangen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass wilde Vögel sich nicht so leicht einsperren und zähmen ließen, was ich meinem Dad eindrücklich zu verstehen gegeben hatte, als er Unmenschliches von mir verlangt hatte.
Hätte er mich gefragt, ob ich in ein brennendes Haus stürmen und einen putzigen Hundewelpen retten würde, hätte ich Ja gesagt.
Hätte er mich darum gebeten, nach der Tour eine Ausbildung als Versicherungskauffrau zu machen, hätte ich womöglich zugestimmt. Immerhin konnte ich mich dann davon versichern, dass ich eine gute und vorbildliche Tochter war.
Aber von mir zu verlangen, dass ich Harry drei Tage lang nach Holmes Chapel begleitete, um die privaten Aufnahmen für den Film zu machen, war mir einfach zu viel gewesen. In einem Land zu sein, das mir fast gänzlich fremd war, mit einem Jungen, der nicht nur gut aussah und charismatisch war, sondern darüber hinaus wahrscheinlich Stalker hatte, die ihre Schießkünste mit dem Spiel Moorhuhn perfektioniert hatten, um mich „Chick" aus einer Meile Entfernung abknallen zu können, während sie Harry ... anders (ab)knallen wollten - das alles war eine Spur größer, als nur mit den Jungs abzuhängen und Aufnahmen zu machen.

Bisher hatte ich auch mit keinem der Jungs so lange Zeit allein verbracht; schon der Gedanke daran trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Und ausgerechnet mit Harry ... Bei einem der anderen Jungs hätte es mich auch Überwindung gekostet, aber Harry schien eine Nummer zu groß zu sein. Und dass ich den eindeutig zweideutigen Unterton des Gedankens ohne einen Lachimpuls zur Kenntnis nahm, sagte genügend über meine Nervosität aus.
Doch mein Vater besaß viel rhetorisches Geschick, das er effektiv einsetzte, um mich in Begleitung von sanften Drohungen zu dem Trip zu überreden. Und als ich meinen Koffer gepackt hatte und mit Harry zum Flughafen in Lissabon gefahren wurde, fühlte ich mich wie ein gefallener Engel, dem die Flügel der Freiheit gestutzt wurden. Aber wer wusste schon, ob die gemeinsamen Tage nicht Harrys und meine ... Freundschaft beflügeln würden. Naja, zur Not würde ich mir eine Dose Red Bull oder Schwimmflügel kaufen.

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Vier Tage später

„Unsere freien Tage gingen so schnell um", jammerte Louis und ließ sich rücklings auf das breite rote Ecksofa des Tourbusses fallen. Während Niall und Zayn erst spät in der Nacht im Hotel eintreffen würden, da ihre Flüge Verspätung hatten, wurden Louis, Liam, Harry und ich vom Flughafen zum Hotel in Mexiko-Stadt gebracht. Eigentlich hatte ich bei meinem Vater mitfahren sollen, aber auch er würde erst am nächsten Tag zu uns stoßen. Laut eigener Aussage musste er für einen Tag wegen „anderweitiger Verpflichtungen" nach Manhattan, nachdem er Liam für Filmaufnahmen in seine Heimatstadt begleitet hatte. Das hatte ich zwar kommentar-, aber nicht gedankenlos zur Kenntnis genommen. Irgendetwas verschwieg er mir, das hatte ich an seiner leicht reservierten Art und seiner nervös klingenden Stimme gemerkt. Und da ich eine Spurlock war, würde ich dieses potenzielle Geheimnis nicht einfach vergessen, sondern investigativ ans Licht bringen. Zur Not würde ich meine Handkamera benutzen und meinem Vater verkleidet nachspionieren. Und je nach Geheimnis könnte daraus sicher ein weiterer Dokumentarfilm entstehen.

This Is Us + MeganWo Geschichten leben. Entdecke jetzt