Ich blicke der Sonne zu, wie sie sich langsam dem Horizont nähert. Mein Bruder ist noch nicht zu Hause, wahrscheinlich bringt er noch seine Gefährtin in das Rudelhaus, bevor er kommt. Den ganzen Tag habe ich darüber nachgedacht, ob ich in den Wald gehen sollte oder nicht. Schliesslich fasse ich einen Entschluss: *Bleib bei deiner Gefährtin, ich habe es mir anders überlegt. Ich kann nicht.* Fast sofort erhalte ich seine Antwort: *Wie du meinst. Falls etwas passiert meldest du dich, klar?* Ich erwidere nur ein *Ja*, dann beende ich die Verbindung. Ich schnappe mir mein Handy und überprüfe, ob ich Nachrichten erhalten habe.
Tatsächlich habe ich eine Nachricht. Die Nummer ist unbekannt und ich tippe etwas verwirrte darauf, um die Nachricht zu lesen. 'Heyyy, Ich bins, Bell^^' Etwas verwirrt starre ich auf mein Handy. Sie hat uns nach unserer Nummer gefragt und wir haben sie ihr gegeben. Vergessen Dummerchen? Ich verdrehe nur meine Augen und schreibe Bell zurück. 'Hey.' Dein Ernst? Ja. Mit wem muss ich da nur einen Körper teilen?! Mit dem besten Menschen, der dir je untergekommen ist. Als ob. Klappe. Fast sofort schreibt Bell mir zurück: 'Wo bist du so plötzlich hin?' Nach kurzem Zögern schreibe ich ihr zurück: 'Bin zusammengeklappt.'
Heute mal sehr gesprächig, was? Ich spreche nicht, ich schreibe. Der war so schlecht! Meinst du, das interessiert mich? Weiss nicht. Bei dir weiss man ja nie. Ich ignoriere Fogs Kommentar und konzentriere mich auf mein Handy. Wie zuvor schreibt Bell mir sehr schnell zurück: 'Gehts dir wieder besser? Sonst könntest du noch mit mir auf eine Party kommen.' Nun bin ich fast glücklich, dass ich zusammengeklappt bin. Ich auch... Ich dachte, du magst sie? Das schon. Aber Partys nicht. Wow. Ich bin geschockt. Wir haben eine Gemeinsamkeit, Fog! Wow, das neunte Weltwunder ist soeben entdeckt worden! Okay, es reicht. Schnell schreibe ich Bell zurück: 'Nicht wirklich. Aber danke für das Angebot.'
Bells schreibt noch, dass sie mir noch gute Besserung wünscht und fragt, ob sie vorbeikommen soll. Letzteres habe ich jedoch dankend abgelehnt. Wenn irgendjemand ausser meinem Bruder sehen würde, wie gut es mir inzwischen wieder geht, würden sie bemerken, wie abnormal ich bin. Abnormal sind wir wirklich, vor allem du. Aber nicht nur, weil wir ein spezieller Werwolf sind und es Legenden und Gerüchte um uns gibt. Geflissentlich ignoriere ich Fogs Kommentar, lege seufzend mein Handy weg, lege mich auf mein Bett und schliesse kurz meine Augen. Ich sehe wieder die Bilder der Vision. Erst der See, in dem ich mein wölfisches Spiegelbild sehe.
Es ist Jahre her, seit ich das letzte Mal als Wolf unterwegs war. Jahre, die so grau und leer für mich waren. Jahre, in denen Dylan mein einziger Halt war. Doch bevor ich wieder in meiner Trauer versinken kann, erblicke ich vor meinem inneren Auge den Wolf aus meiner Vision. Ich erkenne nur seine Silhouette, dennoch weiss ich genau, dass dies ein Werwolf ist. Und irgendetwas scheint mich regelrecht dazu zu drängen, zu ihm zu kommen. Doch sosehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht erkennen, wie der Wolf aussieht. Nur das er selbst für einen Werwolf sehr gross ist. Aber der wunderschöne Anblick des Sees und des geheimnisvollen Werwolfs bleibt nicht lange.
Denn nun wechselt das Bild und ich erblicke ihn. Blanke Panik überkommt mich und unwillkürlich fange ich an zu zittern. Er hat meine Eltern getötet. Er hätte fast meinen Bruder getötet. Er wollte mich um jeden Preis, damit ich ihm zur Macht verhelfen kann. Nein. Was nein? Er wollte uns nicht um jeden Preis. Er will uns um jeden Preis. Er sucht immer noch nach uns und er wird wahrscheinlich nie aufgeben. Aber was könnten wir tun? Verstecken bringt nichts mehr. Wir müssen unsere Fähigkeiten weiter entdecken, nur so können wir uns, wenn er uns findet, verteidigen. Bist du dir sicher? Ja, das ist der einzige Weg. Wenn er uns findet, sollten wir besser niemanden hineinziehen. Das ist unser Kampf.
Wow. Seit wann bist du so erwachsen Fog? Ich bin beeindruckt! Wenn du zu dumm bist selber zu handeln, muss ich halt mal was tun. Und da ich sowieso intelligenter bin, übernehme ich jetzt das Kommando! Das kannst du vergessen. Ausserdem sind wir eine Person und gleich intelligent. Schon gut. Aber jetzt los in den Wald! Ist ja gut. Seufzend stehe ich auf und gehe die Treppe hinab. Schnell ziehe ich mir meine Schuhe an und suche den Schlüssel. Ausnahmsweise finde ich ihn fast direkt auf Anhieb. Er steckt im zweiten Paar Schuhe meines Bruders. Schnell hole ich ihn heraus und gehe aus der Tür, schliesse ab und lasse den Schlüssel unter einem schweren Blumentopf verschwinden.
Ein normaler Mensch könnte diesen wohl nicht anheben, doch für Werwölfe ist dieser kein Problem. Eilig mache ich mich dann auf den kurzen Weg zum Waldrand. Immer wieder blicke ich mich unauffällig um und prüfe die Luft. Niemand soll mich sehen. Dann verschwinde ich schnell im Dickicht. Geh noch etwas tiefer in den Wald, dann können wir unsere Fähigkeiten testen! Ich tue was sie sagt. Aber nur ausnahmsweise. Schade. Könnte von mir aus immer so gehen. Tia, Pech gehabt. Schnell laufe ich durch den Wald. Es ist inzwischen stockdunkel geworden und der Wald ist still.
Einzelne Rufe von Eulen und das Rauschen von Blättern sind die einzigen Geräusche, die ich hören kann. Ich halte auf einer kleinen Lichtung an und schliesse kurz meine Augen. Langsam atme ich einmal tief ein und wieder aus. So. nun Konzentration Mädel! Wir können mehr als schnellere Selbstheilung und Visionen. Streng dich an du faules Stück- Klappe Fog. Nö. Go Talya, go Talya... Hör auf damit. Hast ja Recht. Klingt komisch, du brauchst dringend einen Spitznamen von mir für dich! Ich nenne dich nun Ta. Go Ta, go Ta! Kannst du jetzt mal die Klappe halten Nightfog? Und dieser Spitzname ist einfach nur-
Super! Finde ich auch, also sind wir ja einer Meinung. Wo ist das Problem?! Wenn du nicht endlich ruhig bist, kann ich mich nicht konzentrieren. Oh. Okay, bin schon still. Endlich. Genervt versuche ich mich zu konzentrieren. Doch es klappt einfach nicht! Auf was soll ich mich überhaupt konzentrieren? Das ein paar Regenbogeneinhornponies von dem finsteren Himmel herunter galoppieren?! Gute Idee! Können wir das machen? Bitte, bitte, bitte! Das wäre so cool! Nicht dein ernst jetzt. Eigentlich nicht. Obwohl es schon verdammt cool wäre, wenn plötzlich ein paar Regenbogeneinhornponies zu uns kommen würden. Aber jetzt ernsthaft. Versuch es einfach nochmal. Schieb alle deine Gedanken beiseite und stell dir vor, wie Energie durch deinen Körper strömt. Oder so.
Hättest du das "Oder so" und den Anfang weggelassen, wäre das eine verdammt epische Rede gewesen. Aber nein, du hast es versaut. Sorry, aber musste sein. Ich merke es. Gut, ich versuche es noch einmal. Mein Mädel Ta, wie es leibt und lebt! Ich bin grade richtig stolz... Klappe jetzt. Ich seufze noch einmal auf, dann versuche ich an nichts zu denken. Und das ist schwieriger, als man vielleicht denken könnte. Viel Spass beim Ausprobieren, ich bin mir sicher, dass man es zu einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht schafft.
Ich atme einmal tief durch und schliesse dann meine Augen. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich im Wald stehe. Ich stelle mir die Bäume vor, wie deren Laub sich aufgrund des Herbstes langsam von einem satten Grün in leuchtende Gelb- und Orangetöne verwandeln. Ich stelle mir den finsteren, wolkenbedeckten Himmel vor. Und schlussendlich stelle ich mir mich vor. Wie ich mit geschlossenen Augen auf der Lichtung stehe. Bei diesem Bild bleibe ich vorerst. Doch es geschieht nichts. Rein gar nichts. Ich weiss nicht, ob das überhaupt noch Sinn macht. Doch sobald ich andere Gedanken als meine Vorstellung habe, verblasst das Bild zunehmend.
Verzweifelt versuche ich mich an diesem Bild festzuhalten, doch vergebens. Umso mehr ich an das Bild denke, je schneller verblasst es. Frustriert öffne ich wieder meine Augen. Du hättest nicht zweifeln sollen! Wir waren so nah dran. Kannst du mir sagen, an was wir so nah dran waren?! Ich habe nämlich keine Ahnung. Die ganze Zeit schwafelst du irgendetwas von verborgenen Fähigkeiten. Aber was ist, wenn wir keine haben? Was ist, wenn du dich geirrt hast? Wie du schon einmal gesagt hast, wir können nicht ewig flüchten. Vielleicht sollten wir das auch gar nicht mehr.
Wie meinst du das? Du willst doch nicht, dass er die Macht über alles bekommt? Nein. Aber ich bin es leid. Immer sind wir auf der Flucht. Wir haben keine Freunde und dürfen keine haben, da dies eine Gefahr ist. Für sie oder für uns. Wir können niemandem ausser Dylan trauen. Sonst würde es zu gefährlich werden. Ausserdem dürfen wir nie unseren Mate kennenlernen. Und wenn wir ihn wirklich treffen werden, müssen wir ihn ablehnen. Schon vergessen? Das alles will ich nicht mehr. Vielleicht sollten wir gehen. Für immer. Du meinst, wir sollten uns selber umbringen?! Genau das. Gute Idee.
Nein, das war ein Witz. Bist du völlig durchgeknallt oder was?! Du willst einfach kampflos aufgeben und draufgehen? Eigentlich schon. Ich meine, was bringt es uns und der Welt, wenn wir weiterleben? Kyle wird niemals aufgeben. Und wenn er uns nicht mehr haben kann, findet er einen anderen Weg, um die Macht zu erlangen. Woher willst du das wissen? Und wenn du schon wieder Instinkt sagst, kriege ich einen Anfall. Dieser Instinkt muss nicht stimmen, verstehst du das? Ganz ehrlich? Nein.

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The Night Wolf
Hombres LoboTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...