Nur eine Stunde darauf konnte ich das Gleiche mit dem riesigen Stein, wie Fog es mir vorgemacht hatte. Und es hat keineswegs an meinen Kräften gezehrt. Ich fühle mich gut sogar besser als zuvor! Der Schmerz ist zu einem dumpfen Hintergrund geworden und ich nehme ihn kaum noch wahr. Meine Gedanken wirbeln nun nicht mehr um meinen Mate herum, sondern sind ruhig, geordnet und haben ihn aussortiert. Grösstenteils jedenfalls. Ich bin eigentlich recht zufrieden mit mir und wollte schon zum Haus zurück. Doch Fog macht mir da einen Strich durch die Rechnung. Du kannst ja nicht einmal rechnen! Kann ich wohl! Ausserdem, wollten wir nicht aufhören uns zu zanken?
Jaja, Entschuldigung. Und jetzt bring dieses Steinchen in eine andere Form! Steinchen?! Das ist ein Felsbrocken, kein Steinchen! Na und? Ist doch kein Unterschied. Und jetzt versuch es. Ich verdrehe die Augen. Nicht einmal ein paar Stunden halten wir unser Abkommen ein. Doch unser Umgang miteinander ist schon besser geworden. Ja, das ändert nichts daran, dass du jetzt mit der Verformung des Steinchens beginnen solltest. Das Teil ist grösser als wir, aber gut. Mit einem leisen Seufzer schliesse ich die Augen und beginne ich mich zu konzentrieren. In meiner Vorstellung hebe ich ihn an und drücke die Mitte des Steines zusammen, sodass er eine Sanduhrähnliche Form bekommen sollte.
Ich höre das knirschende Geräusch des Steins und öffne die Augen. Tatsächlich schwebt er in der gewünschten Form exakt an der Stelle, an der ich ihn haben wollte! Ich unterdrücke einen Jubelschrei und einen Freudentanz. Meine Lippen bilden ein riesiges Grinsen des Triumphs, da ich es tatsächlich geschafft habe! Ich habe es geschafft, mich selber zu überwinden und das Unmögliche möglich zu machen! Wenn du dich von nichts Verunsichern lässt, wirst du unbesiegbar Ta! Dann hat Kyle Vodrej keine Chance mehr! Ich kriege das schon hin. Und falls ich versage, übernimmst du, okay? Abgemacht! Dumm, dass der innere Wolf nicht so lange die Kontrolle behalten kann...
Du könntest schon. Allerdings würden wir draufgehen, da der Körper das nicht aushält. Ja, ich weiss. Aber danke für diese Erinnerung an diese Tatsache. Gern geschehen. Doch plötzlich wird mein Körper von einem kaum auszuhaltenden Schmerz durchfahren. Bitte nicht jetzt. Warum? Ich hasse diese Gabe wirklich abgrundtief. Die Schmerzen vervielfachen sich von Sekunde zu Sekunde immer mehr, bis mir schliesslich schwarz vor Augen wird und ich nur noch bemerke, wie ich auf dem Boden aufschlage. Dann ist alles in eine beinahe endlose Schwärze getaucht. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Keinen Muskel, gar nichts. Ich kann nur sehen, obwohl dies im Moment nicht wirklich hilft, denn nur Dunkelheit umgibt mich.
Doch plötzlich zeigt sich mir ein Bild. Erst verschwommen, dann immer schärfer. Mein Mate, fuchsteufelswild. Oder eher wolfsteufelswild? Egal. Der war schlecht. Ich weiss. Ich sehe, wie er meinen Bruder am Kragen gepackt hat und ihn anbrüllt, ob dieser wisse, wo ich bin. Doch Dylan meint, er wisse es nicht. Das Bild stellt auf eine Hintergrundperson scharf. Bells Mate. Er scheint hin und hergerissen, ob er es seinem Alpha sagen sollte oder nicht. Ob er schweigen oder reden sollte. Doch er blieb still. Er scheint den Zusammenhang zu begreifen, dass ich die Prophezeite sein soll. Er scheint zu begreifen, dass alles, was ich sagte, eine Lüge war.
Das nächste Bild zeigt mir dutzend Werwölfe in ihrer animalischen Gestalt, die alle nach Spuren oder Gerüchen suchen. Doch sie finden nichts. Dafür habe ich mich zu gut getarnt und meine Spuren zu sorgfältig verwischt. Das nächste Bild lässt mich kurz stutzen. Ich sehe Dylans hellbraunen Wolf in der Abendsonne allein über Felder rennen. Ich weiss instinktiv, dass er auf dem Weg hier her ist. Doch warum?! Ich habe ihm klar und deutlich mitgeteilt, dass er mich keinesfalls suchen sollte! Bevor ich weitere Gedanken fassen konnte, durchfährt mich der Schmerz wieder mit voller Wucht und ich falle in diese schier grenzenlose Schwärze.
Hektisch öffne ich meine Augen. Doch sogleich bereue ich es und kneife sie wieder zusammen. Das grelle Licht der Sonne gibt mir das Gefühl, demnächst zu erblinden. Naja, etwas übertrieben, nicht? Ein bisschen vielleicht. Klar, ein bisschen. Ja, ein bisschen. Schwerfällig öffne ich meine Lider wieder und blicke mich blinzelnd um. Ich liege am leicht nassen Waldboden der Lichtung des Wasserfalls. Der Tag ist schon recht weit fortgeschritten. Dennoch hat die Abendsonne nicht ihre Leuchtkraft verloren. Das haben wir ja bereits mit Hilfe einer beinahe Erblindung festgestellt. Jaja. Ich rapple mich auf. Jeder einzelne Knochen und Muskel tut mir weh. Hinzu kommt noch das ständige, scheinbar immer schlimmer werdende Ziehen in meiner Brust.
Konzentriert suche ich die Gegend nach auffallenden Gerüchen oder Geräuschen ab. Zum Glück bemerke ich nichts Aussergewöhnliches. Vielleicht haben wir es auch einfach nicht bemerkt. Dann ist es nicht mehr zum Glück! Ich seufze nur kurz über Fogs Kommentar. Das gut miteinander auskommen müssen wir noch üben. Sorry! Aber du musst zugeben, dass ich schon irgendwie Recht habe? Und nur so zur Info, unser Bruder könnte jeden Moment auftauchen. Verdammt! Wie auf Knopfdruck kehren die zuvor gesehenen Bilder zurück. Ascan, der Ausrastet und meinen Bruder ausfragt. Bells Mate, wie er hin und hergerissen zu sein scheint.
Wie sein Rudel suchte, aber erfolglos blieb. Und dann, meinen Bruder rennend. Warte mal... er rannte über weite Felder! Ja Sherlock, er könnte jederzeit hier sein. Habe ich doch schon gesagt. Die Felder sind nämlich direkt vor diesem Wald. Also ist es nur noch eine Frage von Sekunden und Minuten. Toll. Aufmerksam suche ich die Gegend ab. Tatsächlich höre ich schwere Schritte am Waldrand. Noch ist er also recht weit entfernt. Ich atme einmal tief durch und lausche weiter den Schritten. Ich kann sie soweit verfolgen, dass ich ganz sicher bin, dass es Dylan ist.
Die Schritte erstarrten nämlich bei unserem alten Haus und ausserdem kann ich ihn nun schon leicht riechen. Aber auch an seinen Schritten habe ich ihn erkannt, an seinem ganzen Fortbewegungsmuster. Gleich wird er hier sein! Tatsächlich nähern sich die Schritte nach kurzer Zeit immer schneller der Lichtung. Ich stelle mich so, dass ich ihn genau anblicke, wenn er auf die Lichtung kommt. Sogleich bricht ein hellbrauner Wolf mit blau-braunen Augen aus dem Unterholz. Ein paar Schritte vor mir verwandelt er sich und überwindet die letzten Meter in seiner Menschengestalt. Sobald er mich erreicht hat, schliesst er mich in seine Arme.
Sofort erwidere ich die Umarmung. Nach einigen Momenten löst er sich von mir und tritt einen Schritt zurück. Seine Augen wirken stumpf und haben in der kurzen Zeit ihren Glanz verloren. Er mustert mich kurz, dann fragt er mich leise: ,,Warum hast du das getan?!" Ich erwidere erst nichts, doch dann versuche ich es ihm zu erklären: ,,Ich musste, Dylan. Ich kann euch, dich, nicht noch mehr in Gefahr bringen." Entgeistert schaut er mich an: ,,Wie kommst du auf sowas?!" Ich hole tief Luft und beantworte ihm seine Frage: ,,Wegen mir sind unsere Eltern Tod. Einzig und allein wegen mir. Ich werde nicht zulassen, dass du oder ein ganzes Rudel wegen mir draufgeht!"
Er erwidert nichts. Mit entgeistertem Blick starrt er mich an. Dann, nach einigen für mich ziemlich unwohlen Momenten, meint er fest entschlossen: ,,Du bist nicht schuld an ihrem Tod. Keiner von uns ist das. Du kannst schliesslich nichts dafür, dass du anders bist! Und das Rudel und auch ich können auf uns selbst aufpassen. Das einzige, was wir noch brauchen ist die Luna, also dich. Ohne Luna funktioniert ein Rudel auf die Dauer nicht. Dein Mate ist schon am Rande der Verzweiflung, weisst du das?! Und sag mir nicht, dass du die Verbindung nicht spürst, denn dann würdest du lügen, Tal. Ausserdem, weisst du, warum wir ausgerechnet hier her gezogen sind?"
Er unterbricht kurz seinen Redefluss, lässt mir aber keine Zeit, seine Frage zu beantworten. Ich hätte sie verneint. Ich wusste nicht, dass er diese Gegend explizit ausgesucht hatte. Ohne seinen Blick von mir zu nehmen fährt Dylan fort: ,,Wir sind hergezogen, weil hier eines der mächtigsten Rudel lebt! Nicht das grösste, aber dafür das kampferprobteste, loyalste und am besten trainierteste. Nichts könnte dich so gut schützen wie das Midnight-Rudel und dein Mate! Komm mit mir zurück, Tal. Bitte..." Ich bin überrascht über seine Worte. Ich dachte, er wäre wütend oder so, aber das habe ich nicht erwartet. Ich kann mich nicht entscheiden... Noch nie konnte ich ihm eine Bitte abschlagen! Siehst du, es gibt die Möglichkeit, zurückzukehren! Wie ich es dir gesagt habe... Also, willst du zurück?
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The Night Wolf
WerewolfTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...