Kapitel 42

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Starr sitze ich auf meinem Bett. Noch vor wenigen Stunden lagen Ascan und ich noch genau an dieser Stelle, an der ich mich nun befinde. Haben friedlich geschlafen, ohne jegliche Bedenken. Doch nun sitze ich hier, alleine. Ohne die tröstende Wärme von ihm, ohne seine lieben Worte oder seinem berauschenden Geruch. Alleine mit diesem Schmerz, mit dem er mich auf dieser Welt zurückgelassen hat. Noch heute Abend wird seine Beerdigung stattfinden, und allein bei dem Gedanken, seinen leblosen Körper das letzte Mal für immer zu sehen, lässt den Schmerz in mir noch tausendmal schlimmer werden, als dieser bereits gewesen ist.

Tränen bahnen sich ihren Weg, von meinen bereits geröteten Augen bis zu meinem Kiefer, von dem sie langsam hinab auf mein Oberteil und auf die Bettdecke fallen. Leise schluchzend vergrabe ich den Kopf in meinen Händen. Warum musste das nur geschehen? Warum? Und dann ist es noch nicht einmal schlimm genug, dass Savannah ihren Bruder, Tisana und George ihren Sohn, Jalyna ihren Cousin und das Rudel ihren Anführer verloren haben. Nein, es ist alles auch noch meine Schuld. Meine verdammte, eigene Schuld. Nur wegen mir verspürte er enorme Schmerzen, die ihn zu Boden brachten und die Kyle dann ausnutzte.

Er ist für immer verschwunden von dieser Welt, das weiss ich und ebenso weiss ich, dass dies meine Schuld ist. Der Schmerz in mir fühlt sich an, als würde ich innerlich zerreissen und gleichzeitig brutal zusammengequetscht werden. Wenn wir nicht schon an diesen Schmerzen zugrunde gehen, dann wohl an diesen verdammten Schuldgefühlen! Ich stimme dir zu. Ich hätte mir wohl schon längst selbst das Leben genommen, wenn da nicht ein kleiner Haken wäre. Unser Versprechen... Du sagst es. Das Rudel könnte jederzeit von Charly oder George übernommen werden, das wäre nicht das Problem. Doch ich versprach es Ascan.

Das zweite Versprechen ist nicht allzu schwierig einzuhalten, denn ich sehe nur ihn vor mir. Rieche seinen einzigartigen, betörenden Geruch, der mir wohl niemals aus der Nase gehen wird. Höre seine, angenehme, tiefe Stimme, die am Morgen leicht kratzig ist. War. Mein Herz hofft, er würde jeden Augenblich durch die Tür kommen und mir sagen, dass es ihm gut geht und dies alles nur ein Traum war. Doch mein Gehirn weiss ganz genau, dass er für immer von dieser Welt weg sein wird. Tod. Dieses Wort hämmert lautstark in meinem Kopf, obwohl es eigentlich kein Geräusch macht. Ich wusste bereits um die Bedeutung dieses Wortes, doch ich verdrängte es seit dem Tod meiner Eltern.

Nun, da ich wieder mit voller Wucht die Schwere dieses so einfach wirkenden Wortes zu spüren bekomme, verspüre ich das grosse verlangen, Ascan nachzufolgen. Den Schmerzen und der Schuld zu entfliehen. Doch ich versprach ihm, das Gegenteil zu tun. Zu leben. Für sein Rudel zu Sorgen. Unser Rudel. Er wird immer bei uns sein, auch wenn nur die Mondgöttin weiss, warum das Geschehen musste. Aber wir können es nicht rückgängig machen, so gerne ich eben jenes auch tun würde. Es schmerzt, doch wir stehen dass durch, komme was wolle. Ich hoffe, wir schaffen das... Hoff es nicht, glaub daran und kämpf darum!

Das haben unsere Eltern immer gesagt... Ich weiss. Und was die Eltern einem sagen, ist richtig. Also, beweg deinen Hintern vom Bett und zieh dich um. Sonst verpassen wir die Beerdigung. Schon so spät? Eilig stehe ich auf, schmeisse meine Kleidung auf den Boden und ziehe mir stattdessen eine schwarze Hose und einen schwarzen, relativ dünnen Rollkragenpullover an. Dann nehme ich mir noch eine Jacke aus dem Schrank und beginne loszurennen, so schnell es geht die Treppe hinunter und zur Tür. Gerade, als ich die Klinke hinunterdrücken und die Tür aufreissen wollte, meint Fog nur trocken: Ich habe dich verarscht.

Nicht dein Ernst Nightfog? Ohh, jetzt kommt der ganze Name. Schätzchen, ich fühle ebenso viel Schmerz wie du, aber George wollte dich sprechen. Bei deinem ganzen herum Geheule hast du das gar nicht mitbekommen. Also, ab ins Wohnzimmer! Er gibt mir bestimmt die Schuld. Wie auch nicht? Es ist ja auch meine Schuld... Wir können nichts dafür. Nur die Mondgöttin selbst weiss, warum wir ausgerechnet dann eine Vision erhalten haben. Und nun, geh. Wir müssen mit ihm reden. Ich atme tief durch, bevor ich mich umdrehe und den Weg zum Wohnzimmer einschlage. Ich überlege noch, ob ich klopfen sollte, aber das wäre irgendwie komisch.

Also lasse ich es und trete ein. Ich sehe ihn vor einem Bild stehen. Vor der Zeichnung eines Monddeuters. Eines Monddeuters, den wir beide nur zu gut kennen. Ich trete neben ihn und betrachte ebenfalls die feinen, verworrenen Linien des Bildes. Ich muss daran denken, wie Damien dieses wohl erstellt hat. Er muss lange daran gesessen haben. Und ganz zum Schluss, nach dem letzten filigranen Strich, hatte er das Blatt wohl umgedreht und mit geschwungener Schrift schrieb: Z. v. Monddeuter Damien, 12.09.1951. Auch wenn die Schrift leicht verwischt ist, ist sie noch gut lesbar. Und erinnert mich wie dieses ganze Kunstwerk an ihn und meine Mutter.

Ich verbiete mir weitere Gedanken an sie und wende mich vom Bild ab, um mich auf das Sofa zu setzen. George dreht sich nun ebenfalls um und setzt sich mir gegenüber hin. Kurz schweigt er und mustert mich nur prüfend. Zu meiner Überraschung kann ich keinerlei Wut darin entdecken. Nur Trauer. Kein Wunder, er hat seinen Sohn verloren. Das ist wohl wahr... Doch was will er uns mitteilen, wenn er nicht wütend ist? Keine Ahnung, aber ich glaube, das möchte er jetzt gerne sagen. Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder George zu, der nun zu sprechen beginnt: ,,Ich weiss, dass du denkst, ich sei wütend auf dich.

Aber das bin ich nicht. Du kannst nichts dafür, allein die Mondgöttin weiss, weshalb sie dir etwas mitgeteilt hatte, das du nicht ändern kannst, sondern deswegen verursachst. Doch nun zu etwas anderem..." Er schweigt kurz und mustert mich noch einmal kurz. Bei der Erwähnung des Vorfalls zieht sich alles in mir zusammen und der Schmerz überrollt mich noch heftiger als zuvor. Georges Worte können nichts dagegen ausrichten. Ich bin schuld und werde mich ewig schuldig fühlen, dass er so früh von dieser Welt gehen musste. Meine Gedanken werden von George unterbrochen, der nun fortfährt: ,,Er und ich haben eine Vermutung gehabt.

Und nun bin ich mir sicher. Er wollte, das, falls ihm etwas zustösst, du es erfahren musst. Du hast dich in der zukünftigen Rolle der Luna ja nicht recht abfinden können, nicht wahr?" Ich nicke nur leicht. Daran habe noch gar nicht gedacht. George fährt fort: ,,Nun, das liegt wahrscheinlich daran, dass du keine Luna bist. Zumindest nicht nur. Talya, du bist Alpha und Luna zugleich. Wie in der Prophezeiung vorhergesagt, du bist mächtiger als jeder Alpha, nicht nur aufgrund deiner Fähigkeiten. Du besitzt die nötige Bereitschaft zu kämpfen wie ein Alpha es braucht. Jedoch hast du auch die Fähigkeit, auch kampflos eine Situation lösen zu wollen.

Du hast einen enormen Willen nach Freiheit, wie ein Alpha, jedoch auch die Liebe und Zuneigung deinem Rudel gegenüber wie eine Luna. Noch dazu sind deine Eltern die einzigen Werwölfe in der Geschichte, die trotz dessen, dass einer von ihnen ein Monddeuter ist, Mates sind und Nachwuchs gezeugt haben. Dylan erbte jedoch wie es scheint nichts dergleichen von eurem Vater. Er sieht ihm ja auch nicht besonders ähnlich." Ich starre ihn nur wie betäubt an, bevor ich leise sage: ,,Er ist das männliche Ebenbild meiner Mutter." Wie einzelne, kleine Puzzleteile fügt sich alles in meinem Kopf zusammen. Wenn das stimmt, was George mir eben erzählte, gibt alles einen Sinn.

Selbst der Tod meiner Eltern und der von Ascan, so sehr dieser Gedanke auch schmerzt. Ohne meine Eltern wären Dylan und ich wohl niemals so viel herumgezogen, da meine Eltern zu sehr um mein Leben fürchteten, was auch verständlich war. Schliesslich waren wir eigentlich sehr gut getarnt in diesem abseits liegenden Wald, in den sich sonst wohl niemand verirren würde. Noch dazu tarnten wir immer unsere Gerüche. Es wird mir wohl für immer ein Rätsel sein, wie Kyle uns damals gefunden hatte. Sagen wird er es wohl nicht mehr können, denn den Sturz überlebte er nicht. Gut so, sonst hätte ich ihm spätestens jetzt die Kehle zerfetzt!

,,Talya?" Hektisch richte ich meinen Blick auf George. ,,Was?!" Ich bemerke seinen vorwurfsvollen, aber auch mitleidigen Blick als er mich fragt: ,,Du hast mir nicht zugehört, nicht wahr?" Beschämt schüttle ich den Kopf. Ich habe ja nicht einmal mitbekommen, dass er gesprochen hat. Er seufzt leise, bevor er aufsteht, mir eine Hand auf die Schulter legt und mit eindringlichem Blick sagt: ,,Es ist schwer für dich Talya, ich weiss. Jemanden zu vermissen ist nichts schlimmes, aber man sollte es nicht über einen bestimmen lassen. Sie werden auf ewig bei dir sein. Hier drin..." Er deutet auf meinen linken Brustkorb, bevor er sich abwendet und geht und mich verwirrt und nachdenklich zurücklässt.

The Night WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt