Kapitel 29

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Ich merke Georges Blick auf mir. Er scheint verwirrt, sehr verwirrt sogar. Kein Wunder, du Pfosten! Ich ignoriere Fog und warte darauf, dass er etwas sagt. Er räuspert sich kurz, dann fragt er: ,,Könntest du mir erst den Umstand erklären, woher und wieviel du weisst?" Ich mustere ihn kurz, bevor ich ihm eine Gegenfrage stelle: ,,Werden sie anderen Gegenüber schweigen?" Er nickt: ,,Das werde ich, versprochen." Ich nicke und versuche, mich darauf zu konzentrieren, was ich sagen möchte. Nach einer kurzen Pause beginne ich zu erklären: ,,Nun, ich weiss nicht, wieviel Ihr Sohn Ihnen bereits mitgeteilt hat, aber ich bin kein normaler Werwolf. Kennen Sie die Wölfin aus der Prophezeiung?"

Ein kurzes Nicken bestätigt sein Wissen und so fahre ich fort: ,,Diese bin ich. Ich möchte jetzt nicht meine genauen Kräfte erläutern, doch eine ist es, Visionen zu erhalten. Visionen, die mich informieren, mich vorbereiten, mir helfen. Das hört sich jetzt sehr gut an und so. Allerdings kann ich nicht bestimmen, wann und wo sie stattfinden. Ich kann nicht bestimmen, über was ich informiert werden möchte. Sie kommen wie sie wollen und ich bin immer froh, wenn ich keine erhalte, denn sie sind mit enormen Schmerzen verbunden. Meine letzte Vision erhielt ich vor ein paar Minuten. Ich habe Sie gesehen. Auf einer Lichtung mit einem anderen Mann, der einen Mantel mit einer Kapuze trug.

Bevor ich weiterreden kann, unterbricht mich George: ,,Duze mich doch bitte, dass macht es einfacher. Und eine kleine Zwischenfrage, warum sprichst du in einer Vergangenheitsform? Woher willst du wissen, dass es Vergangenheit ist?" Nach einer kleinen Weile, in der ich über meine nächsten Worte nachgedacht habe, antworte ich ihm: ,,So etwas habe ich ihm Gespür. Es ist schwer zu verstehen, aber es ist wie der Instinkt, der einem zeigt, wie man atmet." Ich schweige kurz und als er nichts sagt, sondern mich nur nachdenklich betrachtet, fahre ich fort: ,,Jedenfalls sah ich sie, ich meine dich, mit diesem Mann. Ihr habt euch gestritten. Ich habe nicht ganz genau begriffen, um was es ging, aber es scheint, als wäre er ein Monddeuter und hätte seine Mate gefunden-"

Plötzlich unterbricht er mich: ,,Er muss gelogen haben, denn es ist nicht möglich!" Ich bringe ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen, bevor ich fortfahre als wäre nichts geschehen: ,,Jedenfalls sah ich, wie er das Muster zeigte. Es ist genau das, dass auch auf diesem Papier zu sehen ist." Ich halte die Zeichnung hoch, die ich noch mitsamt dem Rahmen auf meinen Schoss liegen hatte. Ich sehe seinen überraschten Blick, allerdings lasse ich ihm keine Zeit, alles zu verarbeiten, sondern frage nun ihn: ,,Ich wüsste nun gern von dir, wer dieser Mann genau war und warum er dich teilweise mit Areon ansprach."

Bei der Erwähnung des Namens zuckt George kurz zusammen, bevor er sich wieder aufrichtet und nach einer kleinen Weile zu sprechen beginnt. Seine Stimme klingt brüchig und leise, als könnte er noch heute nicht davon sprechen: ,,Wie du hier lesen kannst, hiess er Damien. Er zeichnete mir dieses Bild selbst, da er schon immer gern zeichnete. Er war mein Freund, er war beinahe wie ein Bruder für mich. Er war auch der Einzige, der mich öfters bei mit meinem zweiten Vornamen ansprach. Ich vertraute ihm, dachte, ich könnte ihm alles erzählen. Doch ich wurde enttäuscht. Er verliess mich mit der Ausrede, er habe seine Mate gefunden. Aber das ist unmöglich! Es kann überhaupt nicht sein!"

Vorsichtig frage ich ihn: ,,Hast du seitdem etwas von ihm gehört?" George schüttelt den Kopf. Ich warte kurz, dann frage ich ihn: ,,Hätten sie ein Foto von ihm?" George nickt zögernd und steht dann langsam auf. Er geht zu einem der Schränke und öffnet eine recht grosse Schublade. Er holt eine Mappe hervor, kommt zurück und setzt sich hin. Er legt sie auf den Tisch, öffnet sie langsam und holt dann ein Foto hervor. Er reicht es mir mit einem traurigen Blick und meint: ,,Es ist das aktuellste Bild von ihm, dass ich besitze." Ich nehme es in die Hand und schaue es mir an.

Wie erstarrt betrachte ich das Bild. George und ein Mann lachen mir entgegen. Sie stehen vor einem Wald, der in herbstliches Licht getaucht ist. Es war also wie jetzt Herbst. Ich achte gar nicht auf George, vergesse alles um mich herum. Der Mann auf dem Bild kenne ich nur allzu gut. Sein Name ist Damien Clark. Mein Vorbild, mein Lehrer und mein Vater. Tränen rinnen über meine Wangen. Jetzt nach so langer Zeit ein Bild von ihm zu sehen, so unerwartet und plötzlich, entreisst mir jede Kontrolle. Ich nehme nicht wahr, wie die Tür aufgeht und ein fuchsteufelswilder Ascan hineinstürmt.

Ich bekomme nicht mit, wie sein Gesichtsausdruck von wütend auf besorgt wechselt und zu mir läuft. Ich merke nicht, wie er mich in den Arm nimmt und mich wie ein Baby in seinen Armen schaukelt. Ich sehe nur Damien. Meinen geliebten Vater. Bilder von ihm tauchen vor meinen Augen auf. Wie er mit mir lachend die Wand bemalt. Wie er mit Dylan und mir fangen spielt. Wie sehr er und Finja sich geliebt hatten. Sogar ich als kleines Kind konnte die Mate-Verbindung zwischen den beiden spüren. Ein leiser Schluchzer entkommt meiner Kehle. George behauptet zwar, dass Damien ihm heute nichts mehr bedeutet und er ihn so gut wie vergessen hat, aber ich weiss, dass das nicht der Wahrheit entspricht.

Wenn Werwölfe einmal eine Freundschaft schliessen, die so tief ist, wie sie bei den beiden war, konnte man dies auch nach hunderten von Jahren nicht vergessen. Auch Georges Traurigkeit lässt darauf schliessen, dass er Damien noch heute vermisst. Ein wütendes Knurren reisst mich aus den Gedanken. Sein ganzer Körper erzittert unter seinem Knurren und den fast schon geschrienen Worten, die er seinem Vater an den Kopf schmeisst: ,,Was hast du ihr gesagt oder getan, verdammt?! Wie konntest du nur?!" Ich versuche, aufhören zu weinen und fasse Ascan sanft an seine Wange. Augenblicklich liegt sein Blick auf mir.

Ich spüre, wie seine Wut durch Besorgnis und Liebe ersetzt wurde und er mich sanft anschaut. Mit leiser, bebender Stimme beruhige ich ihn: ,,Es liegt nicht an George Ascan. Er trägt keine Schuld. Es ist nur-" Ein leiser Schluchzer meinerseits unterbricht mich. Erst jetzt bemerke ich, wie nahe wir uns sind und es mich überhaupt nicht gestört hat. Eher im Gegenteil Ich versuche mich jedoch nicht von ihm ablenken zu lassen, sondern versuche mich aufzusetzen. Versuchen, weil Ascan mich so fest im Arm hält, dass ich mich kaum bewegen kann. Irgendwie schaffe ich es, mich aufzurichten und mich hinzusetzen.

Zu meinem Leidwesen ist das direkt auf Ascans Schoss, da er sich nicht dazu im Stande sieht, mich loszulassen. Ich richte meinen Blick auf George, der mich etwas perplex anblickt und ignoriere Tisana, die gerade ebenfalls in den Raum tritt und sich neben ihren Gatten setzt. Ich schlucke schwer, bevor ich Ascans Vater in die Augen blicke. Möglichst kontrolliert versuche ich ihm mein Verhalten zu erklären. Besser gesagt, allen dreien. Ich hole tief Luft und fange erst einmal vorsichtiger an: ,,Für die Erklärung muss ich etwas anderes erst loswerden. Ich bin ja geflüchtet, gerade du hast das am besten Erfahren Ascan. Es tut mir leid, aber ich sah keinen anderen Ausweg.

Ich habe ja erklärt, dass ich die Wölfin der Prophezeiung bin. Und so gibt es auch Werwölfe, die mich kontrollieren wollen, damit sie grosse Macht erlangen können. Wir lebten jedoch zu meinem Schutz sehr weit entfernt von jeglicher Zivilisation, versteckt in einem grossen Wald. Dylan und ich lernten früh, unsere Gerüche zu verdecken, so dass niemand uns so schnell finden konnte. Es war also kein Zufall, dass die Werwölfe dort waren. Damals spielten Dylan und ich auf einer Lichtung in der Nähe unseres Hauses, bis das Rudel auf einmal angriff. Aber unsere Eltern sprangen dazwischen und wir konnten uns retten.

Doch statt weit weg zu flüchten sind wir wieder zurückgekrochen. Versteckt in den Büschen sahen wir mit an, wie kaltblütig unsere Eltern ermordet wurden und dann achtlos liegengelassen wurden. Ich halte kurz inne und eine weitere Träne bahnt sich einen Weg meine Wange hinunter. Ich presse die Lippen aufeinander, blicke zu Boden und erzähle dann leise, mit belegter Stimme weiter: Ich flüchtete, weil ich nicht will, dass euch dasselbe geschieht. Sie suchen nach mir. Deswegen sind Dylan und ich so oft umgezogen, da wir genau wussten, dass sie uns auf den Fersen sind. Es ist meine Schuld. So vieles..."

Ich hebe meinen Blick an und sehe direkt in Georges Augen. Weitere Tränen laufen mir die Wangen hinunter, ohne dass ich sie aufhalten wollte oder konnte. Leise schluchzend gestehe ich George: ,,Meine Eltern waren Mates. Ihre Namen waren Finja und Damien Clark." Ich halte kurz inne und sehe, wie George sich versteift. Ein beinahe lautloser, ungläubiger Laut entkommt seinem Mund. Ich senke meinen Blick wieder du flüstere leise schluchzend: Es tut mir leid George. Es ist meine Schuld Ich weiss, wieviel er dir bedeutet, auch wenn du es niemals zugeben würdest. Er wandelte bis zu seinem Tod auf dem Pfad der Wahrheit, wie er immer tat. Er war mein Vorbild, mein Lehrer und mein geliebter Vater. Und ich bin schuldig an seinem Tod...

The Night WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt