Tatsächlich kommen wir nach einer Dreiviertelstunde in die direkte Nähe der Lichtung. Der Lichtung, auf der alles begann. Dort wurde ich geboren und aufgezogen. Dort lernte ich mich zu verwandeln. Dort wurden meine Eltern getötet. Ein Laut entfährt mir, der irgendwo zwischen einem Knurren und Winseln zu sein scheint. Nun, dann lass uns hingehen... Fog klingt bedrück, traurig aber auch wütend. Genauso wie ich mich fühle. Bedrückt, da ich schon so lange nicht mehr hier war und ich weiss, was hier das letzte Mal geschah. Traurig wegen dem Tod meiner Eltern. Wütend auf das Rudel, dass meine tötete.
Ich bin aber vor allem auch wütend auf mich, dass ich das nicht verhindern konnte, dass dies alles wegen mir geschah. Nach all den Jahren gebe ich noch immer mir die Schuld. Ich weiss, dass ich nicht viel hätte tun können. Vielleicht hätte ich eingreifen können, mich stellen sollen. Sie hätten unsere Eltern so oder so getötet, da bin ich mir ziemlich sicher. Wir sollten froh sein, dass wir uns versteckt haben und dann mit unserem Bruder geflohen sind. Ich glaube das nicht Fog. Vielleicht hätten sie unsere Eltern in Ruhe gelassen, nachdem sie uns hatten. Vielleicht Egal, lass uns auf die Lichtung gehen.
Noch einmal atme ich einmal tief ein und dann wieder aus. Dann wage ich die letzten Schritte aus dem Unterholz. Vor mir taucht genau das auf, was ich erwartet habe. Das kleine Häuschen mitten auf der Lichtung, die Bäume in einigem Abstand fast kreisrund um sie herum. Das fahle Mondlicht lässt den kleinen Bach am Rand der Lichtung silbern leuchten. Zögernd beschreite ich das feuchte Gras der Lichtung. So viele Erinnerungen sind mit diesem Ort verbunden. Hier habe ich gelebt, hier habe ich so vieles gelernt. Hier spielte ich mit meinen Eltern und Dylan. Es scheint beinahe unwirklich, wieder hier zu sein. Nach diesen vier Jahren der Flucht.
Auf einmal spüre ich etwas Nasses auf meiner Wange. Fahrig wische ich es mit dem Handrücken weg. Es war eine Träne gewesen, die sich ihren Weg von meinem Auge zu meiner Wange gebahnt hatte. Nur weiss ich nicht genau, wegen was ich weine. Wegen dem Verlust meiner Eltern? Wegen den letzten Jahren? Weil ich verfolgt werde? Weil ich womöglich bald sterben werde? Ich weiss es nicht. Nun bin ich bei der alten Holztür angekommen. Langsam drücke ich die Türklinke hinunter und trete ein. Alles war ein wenig verstaubt, was allerdings auch kein Wunder ist. Das Haus scheint unangetastet.
Leise, als könnte ich jemanden aufwecken, gehe ich durch das Häuschen. Im Eingangsbereich, wo ich mich jetzt befinde, sind Wohnzimmer, Esszimmer und Küche in einem Raum. Alles sieht noch genauso aus, wie damals. Ich verbiete es mir, zu weinen, obwohl ich mir gerade nichts sehnlicher wünsche. Doch ich weiss, das weinen unnötig ist. Es bringt nichts. Mit einem Kloss im Hals öffne ich die Tür zum Bad. Es ist winzig, altmodisch und ich auf seine eigene Weise einzigartig, wie eigentlich alles in diesem Haus. Leise schliesse ich die Tür wieder von aussen und drehe mich zu der Nächsten.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie Dylan und ich früher immer herumgealbert haben. Auch wenn er um einiges älter war, benahm er sich wie ein achtjähriger. Bei dem Gedanken daran musste ich lächeln. Einmal wollte er partout nicht begreifen, dass ich in einem Kartenspeil gewonnen habe und ist schmollend aus dem Haus gerannt. Nach ein paar Minuten kam er wieder mit einem Lächeln herein und zeigte mir mit funkelnden Augen die Raupe, die er gefunden hatte. Es war eine grüne, winzige Raupe gewesen. Zaghaft greife ich nach der Klinke und drücke sie hinunter. Dies war Dylan und mein Zimmer. Zwei kleine Einzelbetten und zwei Kommoden.
Eine der Wände ist bunt angemalt. Ich war immer eine begeisterte Malerin, das hatte ich von unserem Vater. Meine Mutter hingegen war mehr eine Mathematikerin und nicht sehr kreativ. Mein Bruder hat dies definitiv von ihr geerbt. Ich trete einen Schritt näher an die Malereien heran. Ich war damals so fröhlich und sorglos, dass der Gedanke daran fast schon schmerzte. Kichernd hatte ich die Farbe so verstrichen, wie ich es für schön empfand. Das Ergebnis war nicht perfekt, nein. Wie auch bei einer Siebenjährigen? Doch genau weil es nicht perfekt ist, ist es auf eigene Art und Weise so wunderschön und perfekt.
Nach einigen Sekunden kann ich mich losreissen und mache mich auf den Weg in das letzte Zimmer. In das Schlafzimmer meiner Eltern. Ein schwerer Kloss hat sich in meinem Hals gebildet und mein Herz droht mir beinahe aus der Brust zu springen. Langsam öffne ich die Tür. Alles ist noch wie vor vier Jahren. Die himmelblaue Bettdecke, ordentlich gemacht. Die fliederfarbenen Kissen noch immer am selben Platz. Die alte, hölzerne Kommode. Eine tiefe Schramme an ihr und auf dem Boden bezeigt das Geschehnis vor einigen Jahren. Damals verwandelte ich mich zum ersten Mal. Meine Krallenspuren sind hier verewigt.
Ich weiss noch, wie sie mich herausgetragen haben, mir so gut es ging geholfen haben. Ich weiss noch ihr stolzer Gesichtsausdruck, als ich zum ersten Mal als Wölfin vor ihnen stand. Nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Lautlos suchen sie sich an meinen Wangen ihren Weg. Ich weiss, wie unnötig weinen ist. Ich habe nie begriffen, was sie für einen Sinn und Zweck haben. So weit, wie ich gedacht habe, gar keinen. Und doch tut es jeder Mensch mehrmals im Leben, manchmal beabsichtigt, manchmal nicht. Wir sollten mit dem Training beginnen Ich weiss Fog. Lass mir doch ein paar Minuten.
Die hattest du bereits. Jetzt mach schon, es bringt nicht, den ganzen Schmerz der letzten Jahre hochkommen zu lassen. Wir müssen jetzt stark sein. Leise Seufzend drehe ich mich mit einem letzten Blick über die Schulter um und gehe aus dem Raum. Aus dem Zimmer meiner geliebten Eltern. Ich schliesse alle Türen und gehe dann aus dem Haus. Es wundert mich nicht, dass niemand dieses Haus bisher gefunden und ausgeraubt hat. Es liegt mitten in einem sehr dichten und grossen Wald. Apropos Wald, ich glaube, der beste Trainingsplatz hier ist beim Wasserfall. Guter Plan. Noch einmal blicke ich das Haus meiner Kindheit an.
Dann verwandle ich mich blitzschnell und renne zu dem besagten Platz. Ich rase regelrecht an den dicht stehenden Bäumen vorbei. Immer wieder verspüre ich den leichten Anflug fremder Gedanken. Dylan. Statt ihn weiter abzublocken, lasse ich mich kurz auf den Mind-Link ein. *Dylan? Was ist?* Ich kann Dylans Erleichterung beinahe schon spüren, dass ich ihn endlich nicht mehr abblocke. *Tal Warum tust du das? Wir haben ihn inzwischen gefunden, wie konntest du ihn einfach lahmlegen?! Wenn er dich findet kann ich für nichts garantieren! Zum Glück für dich ist er noch ohnmächtig Hast du es geschafft, ohne gesehen zu werden? Natürlich, dumme Frage. Sonst wüsste ich das. Und-*
Er scheint wirklich sehr besorgt zu sein. Doch da ich nun fast bei dem Wasserfall angekommen bin, fasse ich mich kurz: *Warum ich das tue, ist nicht wichtig. Mit geht es gut, okay? Versuche mich einfach nicht zu finden. Bitte...* Es tut mir weh, ihn so im Dunkeln tappen zu lassen, doch es geht nicht anders. *Aber Tal-* Noch einmal versucht er, mich zu überreden, womöglich zurückzukommen, ihm alles zu erklären. Doch ich weiss, dass es keinen anderen Weg gibt. Er scheint zu merken, dass es nicht bringt, und so verabschiedet er sich: *Nun gut... Pass auf dich auf Tal, okay? Und wenn etwas ist, melde dich sofort!* Ich bejahe ihm seine Forderungen und klinke mich dann aus.
Ich bin beim Wasserfall zum Stehen gekommen. Es sieht noch genauso aus, wie zu dem Zeitpunkt, an dem ich gegangen bin. Am Punkt, wo das Wasser hinfliesst, hat sich ein kleiner Teich gebildet, von dem ein Bach von hier bis zu der Hütte führt. Die Wiese ist trotz des Herbstes und des Mondscheins noch in einem saftigen Grünton und ich kann vereinzelte, kleine Blüten entdecken. Alles hier ist unglaublich ruhig und friedlich. Wahrscheinlich die Ruhe vor dem Sturm...

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The Night Wolf
LobisomemTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...