Kapitel 6

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Noch etwas müde schlage ich meine grau-weisse Decke zurück. Wieder einmal kann ich mich nicht an das Geträumte erinnern. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, wie fast immer, wenn ich aufstehe. Kaum stehe ich auf meinen Beinen, begrüsst mich eine frischfröhliche Fog. Guten Morgen allerseits! Wie geht es denn meiner zweiten Hälfte heute? Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Sie ist einfach unmöglich. Wann muss ich nochmal den Stundenplan abholen gehen? War es nicht um 7.20 Uhr? Doch, stimmt. Das ist der definitive Vorteil an Fog. Sie ist viel weniger vergesslich als ich. Eigentlich schreibe ich nur wegen ihr immer sehr gute Noten.

Ich weiss, ich bin einfach zu gut. Sei also froh, dass du die glückliche bist, die mich als zweite Hälfte abbekommen hat! Jap, bin ich. Wahrscheinlich wollte die Mondgöttin einfach einen guten Ausgleich für mich. Oder deine grenzenlose Dummheit hat ihr Mitleid erregt. Als ob! So dämlich bin ich auch wieder nicht, ausserdem sind wir eine Person, also sag lieber nichts Falsches. Schon gut! Ich brauche zu Fuss wahrscheinlich etwa eine halbe Stunde, um zur Schule zu kommen. Jedenfalls wenn ich nur gehe. Ich habe also noch etwas mehr als eine halbe Stunde Zeit. Ich tapse zum Kleiderschrank und öffne eine von insgesamt sechs Schubladen.

Ich nehme mir ein Paar Socken und frische Unterwäsche und schliesse sie wieder. Dann nehme ich mir aus den anderen ein schwarzes T-Shirt und eine dunkelblaue Hose. Ich habe fast nur dunkle Sachen, da ich diese lieber mag. Schnell ziehe ich mich an und gehe dann ins Bad. Ich werfe einen kurzen Blick in den Spiegel. Ich würde sagen, viel Spass beim Vogelnest entfernen! Na danke Fog. Ich nehme mir seufzend meine Bürste und fange an, meine blonden Haare zu entwirren. Nun gut, im Moment kann man sie nicht mehr wirklich als Haare erkennen.

Gute zehn Minuten später habe ich es endlich fertiggebracht, dass meine Haare wieder wie Haare aussehen. Geschminkt habe ich mich noch nie, warum hätte ich es auch tun sollen? Stimmt, wir sehen halt einfach so perfekt aus! Ich verdrehe nur die Augen und gehe nach unten in die Küche, um mir etwas zu essen zu machen. Danach räume ich alles wieder auf und werfe einen kurzen Blick auf die Uhr. Es ist bereits 6.55. Eilig laufe ich zurück ins Bad, um mir die Zähne zu putzen, dann gehe ich in mein Zimmer und packe meine Schulsachen zusammen.

Mein Handy nehme ich sicherheitshalber mit. Dann schmeisse ich die Tasche über meine Schulter und renne die Treppe runter. Verzweifelt suche ich den Schlüssel. Wenn wir ihn nicht bald finden, kommen wir zu spät! Das weiss ich selber. Danke für diese äusserst hilfreiche Information! Wo hat mein vermaledeiter Bruder den Schlüssel nur hingetan?! Such mal unter der Fussmatte. Ich schau mal. Ich bücke mich und schaue darunter. Tatsächlich liegt der Schlüssel nicht darunter. Tia Fog, blöd gelaufen. In deinem Schuh? Ich schaue schnell nach. Und er liegt auch dort nicht.

Keine Ahnung, wo er sein könnte. Na danke auch. Du bist eine grosse Hilfe. Ich weiss. Ich verdrehe nur genervt meine Augen und ziehe mir schon mal meine Schuhe an. Dazu stelle ich meine Tasche auf den Boden und ein verräterisches Klirren ertönt. Ich glaube, wir haben den Schlüssel gefunden. Ich glaube auch. Genervt schnappe ich mir meine Tasche, hole ihn heraus und trete vor die Tür. Ich schliesse sie ab und jogge dann los. Während dem joggen hole ich mein Handy heraus und blicke auf die Zeit. Es ist schon 7.15! Stress dein faules Hinterteil, dann kommen wir vielleicht nicht ganz so spät!

Zwanzig Minuten später bin ich gerade mal am Schultor angekommen. Ich durfte eben nur im menschlichen Tempo joggen und meine Tasche hat mich auch die ganze Zeit gestört. Eilig trete ich durch den Haupteingang und mache mich auf die Suche nach dem Sekretariat. Glücklicherweise bin ich schnell fündig geworden und klopfe an. Als ein "Herein!" ertönt, trete ich ein und sehe einen älteren Mann, der mir freundlich entgegenblickt. Ich rieche sofort, dass er kein Werwolf ist. Ich setze ein freundliches Lächeln auf: ,,Entschuldigen sie bitte meine Verspätung. Ich habe mich etwas verlaufen."

Er lächelt mich warm an und erwidert: ,,Ist doch nicht so schlimm, junge Dame. Sie sind in der 1c. Hier ist ihr Stundenplan. Ihre Schliessfachnummer ist 112. Hier die Schlüssel. Und das Schulzimmer ist im 1.Stock gleich rechts." Ich bin wirklich über seine Freundlichkeit überrascht. Ich bedanke mich freundlich bei ihm, nehme die Schliessfachschlüssel und mache mich dann auf den Weg zum Zimmer der ersten Stunde. Mit hastigen Schritten gehe ich zu der Treppe, um in den zweiten Stock zu kommen. Dann eile ich zur Tür und klopfe an. Als mir ein etwa vierzig Jähriger Mann öffnet, lächle ich ihn entschuldigend an: ,,Es tut mir wirklich leid, ich habe mich leider verlaufen."

Er wirft mir einen misstrauischen Blick zu, dann antwortet er relativ neutral: "Kann ja mal vorkommen. Ich nehme an, Sie sind die Neue, Talya Clark." Er deutet mir, dass ich ihm folgen soll. Ich folge ihm und stehe meiner neuen Klasse gegenüber. Alle starren mich an, als wäre ich ein Geist. Nur weil wir etwas zu spät kommen? Naja, Hauptsache wir bleiben ein Museumausstellungsstück! Ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Ihre Anspielung darauf, dass es ja keiner anfassen soll, hat sie wieder einmal etwas speziell verpackt. Stimmt nicht mal, ich habe nur die Fakten genannt! Klappe jetzt. Der Lehrer nickt mir zu, dass ich mich vorstellen soll.

Ich sage gelangweilt: ,,Mein Name ist Talya und ich bin 16." Der Lehrer mustert mich kurz erstaunt, dann blickt er in die Klasse und fragt etwas forsch: ,,Noch Fragen?" Etwa sechs oder sieben melden sich. Bitte keine dummen Fragen. Du weisst...dumme Fragen, dumme Antwort. Fragen ins private nicht beantworten. Ich weiss Fog. Ich habe das Ganze schon genauso oft durchgemacht, wie du. Ich lasse meinen Blick kurz durch die Klasse schweifen. Zwei Plätze sind noch frei, einer neben einem Mädchen, das etwas aufgedreht wirkt und einer neben einem ziemlich gut aussehenden Jungen.

Bei beiden handelt es sich um Werwölfe, genau wie bei einem weiteren Mädchen und einem Jungen. Etwa acht Schüler melden sich, um mir Fragen zu stellen. Ich nehme als Erstes einen Jungen dran, der etwa in der Mitte sitzt. Er grinst mich kurz an, dann fragt er: ,,Woher kommst du?" Vollpfosten. Ich würdige ihm kaum einen Blick, sondern erwidere nur: ,,Das ist meine Sache." Ich schaue mich noch kurz um, nur um zu sehen, dass nur noch vier sich melden. Wahllos nehme ich ein ziemlich geschminktes Mädchen dran: ,,Schminkst du dich gar nicht?!" Ich lache auf und grinse sie an: ,,Nicht alle haben es nötig, weisst du."

Braves Talya, gut machst du das! Der hätte glatt von mir sein können. Tröste dich, wir sind eine Person. Ach ja, stimmt! Wie auch immer, dieses geschminkte Fake-Model hat nichts anderes verdient. Ich ignoriere die lachende Klasse, den grinsenden Lehrer und das entrüstete Mädchen. Ich bin genug damit beschäftig, an keinem Lachanfall zu sterben. Nachdem sich alle ein wenig beruhigt haben, blicke ich die verbliebenen Fragesteller an. Ein Mädchen und ein Junge. Anscheinend wollte dir eine weitere Ziege so eine dumme Frage stellen. Idiotinnen! Ich nehme das Mädchen dran, das die ganze Zeit von ihrem Sitznachbar mit bittenden Blicken angestarrt wird. Die Werwölfin fragt gelangweilt: ,,Hast du einen Freund?"

Sobald sie die Frage gestellt hat, flüstert sie dem Jungen etwas zu. Durch mein besonders gutes Gehör kann ich sie gut verstehen: ,,Bitte, ich hab sie gefragt. Jetzt hältst du aber wie versprochen die Klappe!" Gott, dieser Typ ist ja mal ein Mülleimer! Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Dieser Junge hier ist der Erste, der sich eine Taktik überlegt hat. Ich muss sagen, ich würde hier eher antworten, als bei den anderen Klassen, aber Privates bleibt nun mal Privat. Ernsthaft? Ich finde es peinlich!

The Night WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt