Kapitel 1

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Es nieselt leicht, als ich spätabends eine schmale Nebenstrasse einer mittelgrossen Stadt entlanglaufe. Fröstelnd ziehe ich meine Jacke enger um meinen Körper. Ich werfe rasch einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob sonst noch jemand unterwegs ist. Doch die Strasse ist menschenleer. Nur manchmal ist in ein paar Fenstern Licht zu sehen. Mit eiligen Schritten laufe ich weiter den Weg zu meiner Wohnung. Ob Dylan schon zuhause ist? Als ob, unser Lieblingsbruder ist sicher wieder im Wald. Wenn er nicht aufpasst, werden wir bald auffliegen! Gut, ich muss dir ausnahmsweise mal recht geben Fog.

Darf ich vorstellen, meine innere Wölfin Nightfog, die nun zum ersten Mal etwas schlaues gesagt hat. Ich muss einen Lachanfall unterdrücken. Fog muss aber auch immer den unnötigsten Quatsch erzählen. Aber gut, manchmal ist es ja ganz unterhaltsam. Halt doch die Klappe...ausserdem sollst du mich Fog nennen! Ein kurzes Lächeln huscht über mein Gesicht. Ich blicke kurz nach vorne und sehe, dass ich gleich bei der Wohnung ankomme. Ich beschleunige meinen Schritt noch etwas. Schnell schliesse ich die Eingangstür auf und steige die Treppen zum 2. Stock hoch. Ich seufze erleichtert auf, als ich endlich vor meiner Tür stehen bleibe, um sie aufzuschliessen. Meine blonden Haare fallen mir ein wenig vor meine braunen Augen, weswegen ich sie etwas genervt wieder zurückstreiche.

Denn wie Fog und ich bereits erwartet haben, ist mein Bruder noch nicht zuhause. Nun, eigentlich habe ich das erwartet. Du hast mir einfach Recht gegeben... Kannst du einfach mal ruhig sein? Danke. Träum weiter. Seufzend trete ich durch die Tür, die ich in der Zwischenzeit aufgeschlossen habe. Ich trete ein und schliesse sie hinter mir. Ich streife meine Jacke ab und hänge sie im winzigen Flur an einem Kleiderbügel auf. Dann gehe ich in die kleine Küche, um mir ein Müsli zu machen. Mit dem Müsli setze ich mich auf das Zweisitzer Sofa, beginne zu essen und schaue kurz auf mein Handy.

Es ist schon fast dreiundzwanzig Uhr. Soweit ich weiss, hat Dylan um achtzehn Uhr Feierabend. Wo bleibt dieser Volltrottel?! Gute Frage. Ich esse mein Müsli zu Ende, stehe auf und wasche den Löffel und die Schale ab. Dann setze ich mich auf das dunkelblaue Sofa und warte ungeduldig. Warum ich so spät nach Hause gekommen bin? Ganz einfach, ich war nach der Schule in der Bibliothek. Aber nicht um zu lernen, sondern um zu lesen. Etwas ungewöhnlich für eine 16 jährige. Die Meisten in meinem Alter gehen feiern oder so. Aber ich lese für mein Leben gerne und so kann ich meinen Drang, mich zu verwandeln, ein wenig vergessen. Ich habe mich das letzte Mal vor vier Jahren verwandelt.

Seit meine Eltern vor meinen eigenen Augen ermordet wurden. Und das nur, weil sie mich beschützen wollten. Sie wollten mich beschützen, weil ich anders bin. Ich konnte mich schon früh verwandeln, schon mit drei Jahren. Normale Werwölfe verwandeln sich das erste Mal mit acht. Ich kann Dinge, die andere nicht können. Werwölfe sind schon in der menschlichen Gestalt fünf mal so stark und so schnell wie normale Menschen. In der Wolfsgestalt haben wir noch zusätzlich Krallen und Zähne. Ich bin zwar nicht stärker als andere Werwölfe, in dem Fall bin ich eher schwächer, dafür bin ich aber mindestens doppelt so schnell.

Ich kann auch noch andere Dinge, die Werwölfe eigentlich nicht können. Ich kann manchmal in die Zukunft sehen. Dann habe ich Visionen oder Träume davon. Mein Körper, der menschliche und der wölfische, sind robuster und meine Wunden heilen schneller. Natürlich heilen sie bei allen Werwölfe schnell, aber bei mir geht es noch schneller. Ob das meine einzigen Fähigkeiten sind, weiss ich nicht. Wenn schon, unsere einzigen. Jaja, schon klar. Jedenfalls entdeckte mich damals ein Rudel. Definitiv das machtgierigste Rudel, das ich je gesehen habe. Es ist ja auch das einzige Rudel, dass wir je gesehen... Halt einfach die Klappe Fog. Stimmt aber.

Ich ignoriere Fog und gehe meinem Gedankengang weiter nach. Sie wollten mich unbedingt haben, weil sie meinten, ich könnte ihnen zu mehr Macht verhelfen. Ich spielte mit Dylan auf einer Lichtung im Wald. Mein Bruder, der damals schon mit seinen 28 Jahren bereits erwachsen war, sollte vor allem auf mich aufpassen. Wir lebten damals schon in keinem Rudel, kaum jemand wusste von unserer blossen wölfischen Existenz, da wir diese Identität damals schon versteckten. Wir lebten glücklich, wie es war. Dylan passte oft auf mich auf, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Doch es kam, wie es kommen musste.

Auf der Lichtung, wo ich gerade mit Dylan herumtollte, tauchten plötzlich Wölfe auf. Es waren mindestens ein Dutzend Wölfe. Natürlich keine normalen, sondern Werwölfe. Was schon leicht daran zu erkennen ist, dass Werwölfe immer so gross wie ihre menschliche Gestalt sind. Womit ich ein relativ kleiner Werwolf bin, denn die Meisten sind mindestens 1.75 gross. Auch die Weiblichen. Da bin ich mit meinen 1.68 wirklich nichts dagegen. Dylan und ich konnten nichts tun. Wir waren umzingelt. Dann trat ein grosser Wolf hervor, noch grösser als die anderen.

Er war fast zwei Meter gross. Er verwandelte sich in einen Menschen und ein junger Mann kam zum Vorschein. Er war nicht besonders gross, nur etwa 1.75. Denn Alphas bilden die Ausnahme in der Regel. Sie sind alle mindestens 1.90 gross, unabhängig von ihrer menschlichen Gestalt. Umso mächtiger der Alpha, umso grösser seine wölfische Gestalt. Jedenfalls wollte er mich mitnehmen.

Warum er wusste, dass ich besonders bin? Ganz einfach, ich tollte in meiner wölfischen Gestalt umher. Und in einer uralten Werwolfs Prophezeiung heisst es, wenn der Wolf so schwarz wie die Nacht auftaucht, wird sie mächtiger sein, als jeder Alpha. Die Werwölfin soll in ihrer Wolfsform goldene Augen haben, die Strahlen, als würde das Licht der Sonne von ihnen stammen würde. Und diese Werwölfin bin ich. Höchstwahrscheinlich jedenfalls.

Meine Gedanken wandern wieder zu dem Tag, als meine Eltern ermordet wurden. Sie wollten uns gerade angreifen, als plötzlich unsere Eltern auftauchten. Wir rannten weg. Als wir weit genug entfernt waren, versteckte Dylan mich in einem Gebüsch und sagte ich sollte warten. Ich wusste, er würde unseren Eltern zur Hilfe eilen. Doch anstatt zu warten, schlich ich ihm hinterher. Ich rannte in meiner menschlichen Gestalt, da diese Geruchlos war. Normalerweise kann man einen Werwolf auch in seiner menschlichen Gestalt riechen. Doch meine Familie hatte so lange geübt, bis wir alle, zumindest als Menschen, fast Geruchlos waren. Diese Bilder, die ich dann sah, verfolgen mich heute noch. Ich sah, wie meine Familie kämpfte.

Wegen mir. Uns. Wie auch immer!

Sie schlugen sich recht gut, dafür, dass sie definitiv in der Unterzahl waren. Doch mein Bruder passte einmal kurz nicht auf, was hinter ihm war. Ein Wolf hatte sich angeschlichen und setzte zum Sprung an. Der Angriff dieses Wolfs hätte wohl tödlich für Dylan ausgehen können, doch meine Mutter sprang dazwischen. Meine Mutter, Finja Clark, fing den tödlichen Angriff ab. Sie lag mit aufgerissener Flanke am Boden. Über die Erde floss Blut. So unglaublich viel Blut. Dennoch versuchte sie aufzustehen. Sie versuchte weiterzukämpfen. Doch sie war zu verletzt. Mein Vater krümmte sich vor Schmerzen, denn er war ja ihr Mate.

Und Mates spüren fast immer, was ihr Partner fühlt. Die Angreifer nutzten ihre Chance und stürzten sich auf meinen Vater, Damien. Sie zerfleischten ihn regelrecht. Dann liessen sie von ihnen ab und begannen nach mir zu suchen, denn Dylan hatte sich ebenfalls versteckt. Wir harrten stundenlang aus, nur um sicherzugehen, dass sie weg waren. Als schliesslich kein Geruch von ihnen wahrzunehmen war, gingen wir vorsichtig zu den beiden Leichen. Zu den Leichen unserer Eltern. Im Tod haben sie sich wieder in einen Menschen verwandelt. Ich kroch mit Tränen in den Augen auf die beiden zu. Mein Bruder liess sich neben mich nieder.

Finja und Damien lagen so friedlich da, dass man meinen könnte, sie schliefen nur. Allerdings machte das Blut diesen Gedanken wieder zunichte. Ich schluchzte laut auf und strich meiner Mutter mit zitternden Fingern über die Blutverklebte Wange. Ihre Augen waren noch offen. Doch in ihnen war nicht, wie vielleicht vermutet, Schrecken und Angst zu sehen. Sie waren nicht verängstigt aufgerissen. Sie waren nur starr nach vorne gerichtet, als wären sie etwas verträumt, doch man konnte nicht die Zärtlichkeit in ihnen erkennen, die so oft in ihnen zu erkennen war. Tränen flossen mir über die Wangen. Mein Körper schüttelte sich unter den Schluchzern, die ich von mir gab.

Mein Bruder nahm mich in den Arm und versuchte mich zu trösten. Doch wie sollte er mich trösten, wenn er selber fast genauso am Boden zerstört wie ich war? Dieses schreckliche Bild meiner Eltern hat sich bis heute in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich habe meinem Bruder nie gesagt, dass ich mich an ihrem Tod schuldig fühle. Und gemerkt hatte er es wahrscheinlich auch nicht. Er ist zwar ein wirklich toller Bruder, aber besonders einfühlsam ist er nicht. Ich bin zwar auch nicht viel besser, aber ich merke wenigstens meistens, was mein Gegenüber fühlt. Aber mich interessiert es meistens ehrlich gesagt keinen Deut.

The Night WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt