Müde lege ich mich auf das Sofa. Stundenlang habe ich gestern und heute Morgen noch bei Vorbereitungen geholfen. Erst habe ich mit anderen Medizin, Verbände und weiteres bereitgelegt. Dann habe ich zusammen mit Ascan und seinem Beta Charly die Waffen begutachtet und zugeteilt. Nun gut, zugeteilt ist eine etwas schlechte Beschreibung. Es war bereits klar, wer welche Waffen bekommen würde, wir haben sie einfach so geordnet, dass sie jederzeit bereit sind und haben geprüft, ob sie auch in Ordnung sind. Es hat ewig gedauert, alle zu kontrollieren, wenn nötig schärfen und zu putzen. Möchtest du nicht erwähnen, warum es auch noch so lange gedauert hat?
Möglicherweise liegt es daran, dass es eine winzige Ansammlung von unterschiedlichen Waffenarten gab und wir bei jeder Waffenart andere Dinge beachten mussten. Wir haben doch sowieso stärkere Klauen und Zähne als jede Waffe, warum brauchen Werwölfe so etwas überhaupt?! Manche kämpfen aber lieber in der menschlichen Gestalt, da sie in dieser eine kleinere Angriffsfläche bieten und mit dem richtigen Training sind sie auch extrem wendig. Ausserdem sind Schusswaffen sehr praktisch, die man aber nur in der menschlichen Form benutzen kann. Jaja... aber du musst schon zugeben, dass sechs unterschiedliche Bögen, drei Armbrustarten, elf verschiedene Pistolen und sechzehn Arten von Gewehren etwas übertrieben sind?
Ein kleines bisschen vielleicht. Dazu kommen sieben verschiedene Dolche und Messer... wenigstens haben sie nicht auch noch Schwerter, ansonsten wäre diese Sammlung wohl noch unglaublicher! Wo du recht hast, hast du recht... aber lassen wir das. Weisst du, was für eine Uhrzeit es ist? Schau doch einfach auf die Standuhr, die nur wenige Meter von dir entfernt steht! Oder du, als liebenswerte innere Wölfin, könntest mir einfach die Uhrzeit sagen. Liebenswert? Das ist das perfekte Synonym für mich! Das glaubst du wohl selber nicht. Eigentlich schon. Ich weiss nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber du mobbst mich die ganze Zeit.
Ach was, etwas strenge gehört zum Leben! Ich weiss ja nicht, was du für eine Meinung von Dingen hast, okay doch, weiss ich, aber das ist jetzt egal, aber was für eine Meinung hast du bitte?! Eine tolle. Und jetzt lass mich. Das sagst gerade du. Haha. Ermüdet schliesse ich für einen kurzen Moment meine Augen. Als ich sie nach einer Weile wieder öffne, blicke ich mich noch einmal genau um. Ich sitze auf dem äusserst bequemen, dunkelroten Sofa. Die Farbe erinnert mich an frisches, dunkles Blut. Etwas merkwürdiger Vergleich, aber es ist der Einzige der mir dazu einfällt. Mein Blick fällt auf das schön verzierte Holztischchen.
Es muss eine Menge Arbeit gekostet haben, es herzustellen. Der Boden aus dem gut verarbeiteten Stein verleiht den aufwendig und dennoch simpel wirkenden Wänden ein edles aussehen. Allgemein erinnern mich so manche Dinge in diesem Haus- Villa! In dieser Villa an die Barockzeit, doch manche Dinge sind auch modern gehalten. Ich habe noch nie ein so schönes Zusammenspiel zwischen moderner und älterer Baukunst gesehen wie in dieser Villa. Der Kamin des Wohnzimmers ist mit verschnörkelten und feinen Mustern verziert und das Zusammenspiel der Farben ergibt einen ganz eigenen Blickfang. Auch stehen noch ein, zwei Möbelstücke herum, die wohl auch in die barocke Zeit einzuordnen sind.
Die gegenüberliegenden Türen des Raumes sehen auch nicht genau gleich aus, womöglich bestehen sie aus langwieriger Arbeit. Doch am interessantesten und spektakulärsten in und an diesem Raum finde ich das Gemälde, das mit verschnörkelten, filigranen Mustern das Zeichen eines Monddeuters darstellt. Aber nicht von irgendeinem, sondern von dem vorherigen Monddeuter des Rudels, von Damien Clark. Mein für immer geliebter Vater. Starr blicke ich das Bild an. Es scheint eine Verbindung zu ihm zu sein. Als wäre er hier bei mir, in diesem Moment, neben mir auf dem Sofa und als würde er mich warm lächelnd anblicken. Mit diesem einen stolzen, liebenden Ausdruck in den Augen, den ich von ihm kenne. Kannte.
Ich schlucke schwer und blinzle drohende Tränen weg. Im Stillen sage ich zu ihm: Ich vermisse dich Vater. Ich werde dich immer vermissen. Dich und Mutter, ich werde euch niemals vergessen. Mein grösster Wunsch wäre es, euch noch einmal zu sehen. Noch einmal zu berühren, in den Arm nehmen und euch sagen, wie lieb ich euch habe. Das ihr mich mit diesem so ehrlichen Lächeln anseht und mir sagt, wie stolz und glücklich ich seid, das ich eure Tochter bin. Ein leiser Schluchzer entweicht mir. Nichts von alledem wird je wieder möglich sein. Doch ich kann es nicht rückgängig machen. Sie sind weg und so wird es auch bleiben. Aber denk immer daran, was sie stets sagten: ,,Die Gegangenen bleiben auf ewig in den Herzen der liebenden Gebliebenen. Für immer und ewig.
Leise seufzend atme ich tief durch. Morgen wird es soweit sein. Morgen, der Tag, der so nah und doch so fern scheint. Der Zeitpunkt, an dem es womöglich geschehen könnte, dass alles auseinanderbrechen könnte. Alles was mir wichtig ist, was mir etwas bedeutet. Nach dem Tod meiner geliebten Eltern waren meine einzigen Sorgen, dass Dylan sterben könnte oder wir entdeckt werden könnten. Doch nun ist es anders. Ein ganzes Rudel ist nun in Gefahr. Das womöglich grösste Rudel der Welt, oder zumindest der Gegend, bereitet sich auf diesen einen Kampf vor. Einen Kampf, in dem es mehr geht als nur die Grenzen klarzustellen.
Nein, es scheint um etwas anderes zu gehen. Um Vergeltung, um ihnen Einhalt zu gebieten und leider auch um mich zu schützen. Und obwohl ich genau weiss, wie unklug es wäre, mich mitkämpfen zu lassen, hasse ich den Gedanken, hier bleiben zu müssen und auszuharren. Zu warten, ob die Existenz des Rudels gesichert sein wird oder nicht. Denn wenn ich etwas verstanden habe, dann das sich einem Rudelwolf in erster Linie um das Rudel kümmern sollte. Erst dann kommen Familie und Freunde, und erst danach man selbst. Ein gutes Rudel besteht nicht aus egoistischen, nur an dem eigenen Wohl interessierten Mitgliedern, sondern aus selbstlosen, mutigen Werwölfen, die ihr Leben vor alle anderen stellen.
Zu gern würde ich mich freiwillig in die Hände der Feinde begeben, nur um mein Rudel zu schützen. Doch es wäre dumm. Wenn sie mich in ihrer Gewalt hätten, wäre wohl alles umsonst gewesen. Das Opfer meiner Eltern, das jahrelange verstecken vor ihren Krallen, die sich wie ein Alder, in immer näheren Kreisen, um mich geschlossen hatten. Bis ich hier her kam, und sich meine Welt änderte. Unwiderruflich, das weiss ich nun. Ich gehöre hier her, auch wenn ich mich wohl noch an die Rolle der Luna gewöhnen muss, doch glücklicherweise bin ich noch nicht die Richtige, sondern erst die Zukünftige.
Das lässt mir genug Zeit, das Rudel ein wenig kennenzulernen. Doch zurück zu dem Bevorstehenden. Laut Ascan wäre es sehr unwahrscheinlich, dass wir verlieren werden. Doch er sagte nicht, wie viele Opfer ein Sieg kosten könnte. Einer? Zwei? Zehn? Hundert? Ich möchte gar nicht daran denken, zu sehr sehe ich vor Augen, wie dutzende Familien in Trauer fallen, vor Tränen alles um sich herum vergessen. Der Tod wie ein Schatten im Hintergrund. Leise, kriechend, trotz alledem unausweichlich. Ich werde nicht mitkämpfen können, dass weiss ich, alles andere wäre dumm und unbedacht. Dennoch möchte ich mehr zu dem Kampf beitragen, als nur furchtsam zu warten.
Für irgendetwas habe ich doch meine Kräfte erhalten! Ta? Ich hätte da einen Plan... Wirklich? Nein, ich sag das einfach so, um dir falsche Hoffnungen zu machen. Natürlich du Pfosten! Ist ja nur eine Ausdrucksweise, beruhig dich. Also, erzähl mir von deinem Plan.

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The Night Wolf
Kurt AdamTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...