Ascan wendet seinen Blick ab. Obwohl ich sein Gesicht nun nicht mehr sehen kann, spüre ich dennoch seine Gefühle dank seines Bisses. Wut, Unverständnis und Verzweiflung sind nur ein Bruchteil von ihnen. Den Grossteil kann ich noch nicht einmal zuordnen. In ihm herrscht ein einziges Gefühlschaos. Nach einigen Augenblicken stellt er leise fest: ,,Er ist nicht dein Cousin." Ich schlucke einmal schwer und warte auf weitere Worte von ihm. Ebenso leise wie zuvor fährt er fort: ,,Er ist dein Bruder, nicht wahr?" Ich bejahe leise seine Frage. Ich bemerke einen Gefühlsumschwung von ihm, jedoch keinen positiven. Blitzschnell steht er auf und rennt los.
Die Tür reisst er mit so einer Kraft auf, dass so ein lauter Knall entsteht, der mich befürchten lässt, dass das ganze Haus einstürzen könnte. Kurz sitze ich noch wie eingefroren da, doch dann begreife ich, was er vorhat. So schnell ich kann renne ich nun ebenfalls los. Wenn du dich nicht beeilst, ist unser Bruder tot, bevor wir kommen! Ich weiss! Wieder spüre ich Ascans Gefühle. Seine Wut ist so gross, dass ich mich schon wegen diesem Gefühl, das von ihm ausgeht, beinahe winselnd auf den Boden geworfen hätte. Suchend blicke ich mich um. Dann höre ich einen lauten Schrei von draussen. Verdammt!
Eilig renne ich zum Ursprung des Geräuschs, die Treppe hinunter und durch die offene Tür. Nur knapp hundert Meter entfernt steht ein riesiger, mehr als zwei Meter grosser Wolf. Sein Anblick lässt mein Herz kurz einen Schlag aussetzen. Sein silbernes Fell glänzt selbst in der Nachmittagssonne so silbern wie es nicht einmal das eigentliche Metall vermag. Hach... Noch nie habe ich einen so schönen, doch zugleich so furchteinflössenden Wolf gesehen. Doch als ich bemerke, dass Dylan als Wolf vor ihm steht und sich so klein wie möglich macht, verdränge ich den Drang, mich winseln auf den Boden zu werfen.
Stattdessen nähere ich mich ihnen in grossen Schritten. Ascan scheint mich nicht zu bemerken, aber Dylan gibt mir verzweifelt Zeichen, dass ich nicht kommen sollte. Mein Mate hat sich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Sein Ganzer Körper zittert vor Wut und mit bedrohlichen, schweren Schritten geht er auf meinen Bruder zu. Ich höre ihn Knurren: ,,Ich hasse es belogen zu werden, weisst du? Und rate mal was du getan hast! Ich habe es schon die ganze Zeit geahnt!" Ich beschleunige noch einmal, während ich mich verzweifelt umblicke. Niemand ausser uns drei ist hier.
Ich bin die Einzige, die sich ihm entgegenstellen könnte, denn Dylan ist zwar verdammt intelligent, doch gegen ihn hat er nicht den Hauch einer Chance. Das hat wohl im Allgemeinen kaum jemand. Wo du Recht hast, hast du Recht. Ich sehe, wie Ascan zubeisst, Dylan jedoch im letzten Moment noch ausweichen kann. Verzweifelt rufe ich Ascans Namen, doch er reagiert nicht. In einer Wut nimmt er wahrscheinlich überhaupt nichts mehr wahr. Doch dem nächsten Angriff kann mein Bruder nicht mehr ausweichen. Sein schmerzerfülltes Jaulen klingt mir in den Ohren, als er zu Boden geschleudert wird. Ich springe auf Ascans Rücken und noch während dem Sprung verwandle ich mich.
Wild Knurrend beisse ich mich in seinem Rückenfell fest. Ascan knurrt kurz wütend und versucht mich dann von seinem Rücken hinunter zu zerren. Doch bevor er mich erwischen kann, springe ich hinunter und stelle mich mir zähnefletschend und mit gesträubtem Fell vor Dylan, der bewusstlos hinter mir liegt. Wütend fahre ich Ascan an: ,,Er hat wegen mir gelogen, ich wollte das so! Also halt dich jetzt mal zurück oder willst du dich mit mir anlegen?!" Verwirrt blickt Ascan mich an. Fassungslos blickt er mich an und fragt: ,,Talya?!" Als Antwort knurre ich ihn nur an.
Kurz zögert er, doch als er seinen Schock überwunden hat, sagt er bestimmt: ,,Geh mir aus dem Weg!" Ich knurre ihn nur laut an: ,,Niemals! Er trägt keine Schuld!" Seine silberblauen Augen, die in seiner verwandelten Form noch viel mehr leuchten, verdunkeln sich deutlich noch einmal um ein paar Nuancen. Langsam, mit einem wütenden Unterton befielt er mir: ,,Geh mir aus dem Weg!" Verzweifelt suche ich einen Weg, Dylan heil aus der Situation zu bekommen. Doch mir will einfach keine Lösung Einfallen. Aber notfalls werde ich ihn mit meinem Leben verteidigen, auch gegen Ascan. Ganz deiner Meinung!
Drohend geht Ascan einen Schritt auf mich zu. Warnend knurre ich ihn an. Wenn er noch einen Schritt näher kommt, schlage ich ihm höchstpersönlich sein hübsches Gesicht kaputt! Ich verdränge das Bedürfnis, klein bei zu geben und mich zu unterwerfen. Ascan, noch immer in seiner Wut gefangen und ohne jede Kontrolle, knurrt noch einmal auf. Ich konzentriere mich auf jeden von Ascans Schritten und beginne, einen umgestürzten Baum hochzuheben. Als Ascan dann zum Angriff ansetzt, werfe ich den Baum zwischen uns. Verwirrt dreinblickend tritt Ascans Wolf zurück. Ich spüre, wie sich seine Wut zurückzieht und sich Verwunderung in ihm breitmacht.
Endlich! Mit einem warnenden Blick in seine Richtung wende ich mich von ihm ab und Dylan zu. Besorgt mustere ich meinen bewusstlosen Bruder. Auf den ersten Blick kann man nicht so viel erkennen, also stupse ich ihn sanft an, sodass er von der Rückenlage in eine seitliche Lage gerät. Erschrocken halte ich inne, als ich seinen Rücken sehe. Sein T-Shirt ist zerrissen und Blut quillt noch immer aus den Wunden. Ich weiss nicht, wie ich diesen Anblick beschreiben sollte. Aufgeschlitzt beschreibt es wahrscheinlich noch am besten... Definitiv. Wenigstens scheinen es nur Wunden zu sein und keine Brüche oder so etwas in der Art.
Spätestens in einer Woche wird man kaum noch den Hauch der Narben sehen. Erleichtert atme ich aus. Dann drehe ich mich wieder zu Ascan um. Wütend funkle ich ihn an. Inzwischen hat er sich wieder zurückverwandelt und schaut mich mit neutraler Miene an, die mich jedoch beinahe zu Weissglut bringt. Mit beruhigender Stimme sagt er: ,,Ich habe bereits den Rudelarzt informiert, kleine. Alles gut." Völlig ausser mir gehe ich auf ihn zu und verwandle mich noch währenddessen zurück. Etwa zwei Meter vor ihm bleibe ich stehen und fahre ihn an: ,,Wenn du mir nur einmal zugehört hättest, wüsstest du, dass er meinetwegen gelogen hat! Und nenne mich nicht kleine, verdammt!"
Mit noch immer neutraler Miene blickt er mich an und erwidert dann achselzuckend: ,,Lügen ist lügen. Das macht doch keinen Unterschied." Ich atme einmal tief durch, um ihm nicht an die Kehle zu gehen, und frage ihn dann möglichst ruhig: ,,Hast du eine Schwester, die vielleicht auch noch jünger ist als du?" Überrascht schaut er mich an und nickt dann langsam. Nun Frage ich weiter: ,,Würdest du ihr einen Wusch abschlagen, wenn sie es unbedingt möchte?" Ascan schüttelt den Kopf und scheint noch immer nicht zu begreifen, auf was ich hinauswill. Also stelle ich ihm meine letzte Frage: ,,Also würdest du für sie lügen, wenn sie dich darum bittet, die Wahrheit zu verschweigen?"
Verblüfft blickt er mich an. Ich weiss ganz genau, dass seine Antwort positiv gewesen wäre. Kopfschütteln drehe ich mich wieder zu meinem Bruder um. Er ist noch immer bewusstlos. Anscheinend ist Ascans Kraft sogar noch ausgeprägter, als dass ich sie eingeschätzt hatte, dass sie sogar einen ausgewachsenen Werwolf mit einem kleinen Angriff zur Bewusstlosigkeit bringen konnte. Das hätte nicht passieren dürfen! Meine Wut auf diesen Vollidioten ist noch immer nicht verraucht. Kein Wunder, nicht einmal kann er zuhören oder sich kontrollieren! Trotz dessen, dass er unser Mate ist, in solchen Situationen ist er ein Idiot. Definitiv.
Ich höre, wie Ascan sich versucht anzunähern. Mit leiser, wutunterdrückter Stimme warne ich ihn: ,,Bleib mir ja fern!" Tatsächlich bleibt er stehen. Besorgt mustere ich noch einmal meinen Bruder. Es sind zum Glück keine Lebensgefährlichen Verletzungen, soviel habe ich von Dylan gelernt. Er wollte immer, dass ich mich wenigstens ein wenig mit Verletzungen, Krankheiten und deren Behandlung auskenne. Obwohl er mich gegen meinen Willen zurückgebracht hat, ist er immer noch mein Bruder. Das letzte Familienmitglied und der Einzige, dem ich voll und ganz vertrauen konnte, kann und können werde.

DU LIEST GERADE
The Night Wolf
Hombres LoboTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...