Gut, dann lass es uns versuchen! Konzentriere dich doch mal auf dieses kleine Steinchen und stell dir vor, wie es schwebt. Muss ich das verstehen? Vielleicht. Und jetzt mach! Seufzend versuche ich, Fogs Anweisungen auszuführen. Doch es funktioniert einfach nicht! Dann mach es zuerst wie gestern im Wald. Beruhige dich, atme tief durch. Stell dir vor, wie du auf der Lichtung stehst, stell dir alles darum herum vor. Ich schliesse meine Augen und tue das Verlangte. Und kaum habe ich dieses Bild vor Augen, spüre ich etwas Merkwürdiges. Eine Art Kribbeln in meinem ganzen Körper. Ohne wirklich zu wissen, was ich da mache, öffne ich meine Augen und fixiere den Stein.
Er wankt kurz, dann schnellt er in die Höhe. Gut einen Meter über den Bäumen bleibt er in der Luft stehen und bewegt sich nicht mehr. Vor Schreck zucke ich zusammen und augenblicklich fällt der Stein zu Boden. Verdattert starre ich den Stein an. Das schon beinah berauschende Kribbeln ist verschwunden, stattdessen breitet sich unendliche Müdigkeit in mir aus. Das ist echt cool! Ja, und echt anstrengend... Ach, dann müssen wir halt trainieren. Am Anfang ist alles schwer! Jaja. Aber mal ehrlich, was soll uns diese Fähigkeit im Kampf helfen?! Hast du mal genau nachgedacht? Anscheinend nicht.
Wir können, wie es scheint, Dinge mit Gedankenkraft bewegen. Stell dir vor, wir können ihn selbst hochheben und so wehrlos machen! Stimmt, das habe ich gar nicht in Erwägung gezogen. Aber bevor wir weitertrainieren, lass uns doch schlafen. Ich bin extrem müde! Jap, schlaf gut Ta. Halt die Klappe Nightfog. Jaja, ich habe es ja verstanden. Völlig am Ende verwandle ich mich in meine wölfische Gestalt und rolle mich zusammen. Ein letztes Mal überprüfe ich die Umgebung auf auffällige Geräusche oder Gerüche. Doch alles scheint normal und so falle ich fast sofort in einen leichten Schlaf.
Blinzelnd öffne ich meine Augen und blicke direkt in die grelle Sonne. Schnell kneife ich meine Augen wieder zusammen, bevor ich sie wieder langsam öffne. Alles ist friedlich, nur vereinzelte Vogelstimmen klingen durch den Wald und die Mittagssonne lässt das Wasser des Wasserfalls golden glitzern. Das leichte Rauschen und plätschern haben mich aber nicht geweckt. Auch nicht das Vogelgezwitscher oder der Sonnenschein. Sondern ein stechendes Ziehen in meiner Brust. Ich unterdrücke ein Winseln und kauere mich auf den Boden. Was ist das?! Ich glaube, das ist Ascan, der aufgewacht ist. Ausserdem auch dein Schmerz, weil er so weit entfernt ist.
Warum spüre ich seine Gefühle plötzlich? Kann er meine Gefühle auch spüren? Ich weiss es nicht, vielleicht weil sie ihn so eingenommen haben und so stark sind. Und nein, im Moment eher nicht, erst in sieben Tagen. Obwohl, vielleicht auch schon früher. Warum meinst du?! Nun ja, eigentlich wirkt Wolfswurz rund vierundzwanzig Stunden... und er ist schon nach zehn aufgewacht. Und es gibt auch kein Gegenmittel. Dann geht deine Schätzung gar nicht mehr auf! Wie viele Stunden haben wir dann noch?! Nun, in meiner normalen Rechnung hätten wir jetzt noch etwa 158 Stunden. Doch so... ich weiss nicht, vielleicht fünfzig?
Mehr oder weniger jedenfalls. Na toll. Wir haben also etwas mehr als zwei Tage Zeit. Ich freue mich schon! Und diese Zeit sollten wir jetzt nutzen. Wie denn? Ich kann mich vor Schmerzen kaum rühren... Ignoriere oder verdränge sie! Das hast du bisher doch auch geschafft. Denk an alles Negative von Ascan. Ich versuche es ja schon die ganze Zeit! Ich schliesse meine Augen und rufe mir vor Augen, wie er mich erst verängstigen und verletzen wollte und mich dann am nächsten Tag beinahe umgebracht hat. Wie er mich entführt hat. Der Schmerz verklingt ein wenig. Gerade als er zu vergehen scheint, tauchen andere Bilder vor mir auf.
Wie er sich um mich kümmerte, wie liebevoll er mich ansah. Mit voller Wucht kehrt der Schmerz zurück. Warum ist das so kompliziert?! Ich habe Angst vor ihm, weshalb geht es dann nicht? Mir fällt es genauso schwer, glaub mir. Doch denk daran, er hat uns nicht einmal erkannt. Er hat nicht begriffen, wer wir sind, bis wir es ihm gesagt haben! Wenn wir es nicht schaffen, werden er und sein ganzes Rudel, also auch Dylan, draufgehen. Dieses Opfer müssen wir bringen, okay? Das weiss ich Fog. Ich habe geschworen, dass ich Dylan nicht sterben darf.
Und ich halte meine Versprechen immer. Wenn das so ist können wir ja weiter üben, oder? Ich seufze auf, überprüfe noch einmal die Gegend und verwandle mich dann zurück in meine Menschengestalt. Heute können wir ja etwas Schwereres anzuheben probieren. Zum Beispiel diesen Zweig dort. Ich blicke zu dem besagten Objekt und fange an, mich zu konzentrieren. In meiner Vorstellung schwebt er einen Meter über dem grasbedeckten Boden. Ein kurzes Ruckeln durchfährt den Zweig, dann steigt er in die Höhe. Doch leider nicht nur einen Meter über dem Boden, wie von mir vorgesehen, sondern immer höher und höher, bis über die Baumkronen hinaus.
Ein weiteres Ziehen durchfährt meine Brust. Augenblicklich fällt der Zweig gut zehn Meter in die Tiefe und schlägt kurz vor mir auf dem Boden auf. Ich will gar nicht wissen, was dieser Zweig bei seiner Fallgeschwindigkeit hätte ausrichten können! Wir hätten wegen deiner Unkonzentriertheit sterben können! Dann mach du es doch besser! Gute Idee, ich war sowieso schon länger nicht mehr am Steuer. Das klingt komisch. Na und? Egal, du musst mir einfach versprechen, dass du mich, sobald ich es verlange, wieder zurücklässt! Jaja. Und jetzt lass mich. Ich gebe Fogs drängen nach und lasse sie die Führung übernehmen.
Ich merke, wie ich die Kontrolle über meinen Körper verliere und diese an Fog geht. Nun bin ich, jedenfalls vorübergehend, die innere Stimme. Das heisst, ich kann nun Fogs Gedanken hören, aber sie meine nicht mehr. Der Nachteil der Sache ist jedoch, dass ich keinerlei Kontrolle über meinen Körper mehr habe. Dann wollen wir mal. Was soll ich als Versuchsobjekt nehmen? Ich glaube, ich nehme den grossen Stein dort! Ich unterdrücke einen Kommentar meinerseits und beobachte das Geschehen. Fog fokussiert den gewaltigen Stein und ich sehe ihre Vorstellung vor mir. Auf Kopfhöhe möchte sie ihn also haben, etwa drei Meter von uns entfernt. Na, ob das gut geht...
Der riesige Stein fliegt ohne Vorwarnung in hoher Geschwindigkeit direkt auf den ihm von Fog zugewiesenen Platz und verharrt dort in der Luft. Unfassbar! Dieses Teil ist definitiv mindestens sechs Mal so schwer wie ich, und nun schwebt er vor mir, als wäre dass das natürlichste der Welt. Ungläubig starre ich auf das Geschehen. Ich würde sagen, geschafft, nicht? Ich verdrehe innerlich die Augen. War ja klar. Doch etwas verwirrt mich, also frage ich Fog: Warum wirst du davon nicht geschwächt?! Ich merke, wie Fog anfängst zu grinsen. Tia, ich habe keine emotionale Unsicherheit, wie du.
Wenn du diese ablegst, kannst du das auch! Aber dieser Schmerz lenkt mich so ab! Du spürst ihn ja genauso wie ich, wenn nicht sogar noch mehr! Wie kannst du bloss immer die stärkere von uns beiden? Bin ich so schwach?! Weil ich weiss, dass dieser Weg der einzige ist. Und weisst du, wer mir das gesagt hat? Du! Als ich noch komplett weg war, wegen unserem Mate, hast du mich dazu gebracht, die Lage zu begreifen. Nur durch dich bin ich nicht hin und her gerissen. Und du bist nicht schwach. Wenn du das wärst, wären wir nicht hier!
Aber hast du etwa gestern vergessen? Ich wollte ich nicht mehr. Ich hätte wohl Suizid begangen, so verzweifelt war ich! Das nennst du stark?! Jeder hat einmal Momente, wo er an allem zweifelt. Aber jetzt musst du fest davon überzeugt sein, dass das der einzige Weg ist! Du musst ihn vergessen... wohl oder übel. Ihn vergessen!? Warst du nicht jene von uns, die sich so vor ihm fürchtete? Warum willst du ihn denn jetzt nicht vergessen? I-ich weiss nicht. Ich kann nicht. Wir müssen. Wir? Meinst du, mir fällt es leicht? Als innerer Wolf habe ich weitaus ausgeprägtere wölfische Instinkte als du. Wir machen das zusammen. Wir machen alles zusammen, dafür wurden wir geboren.
Du hast Recht. Also hören wir mit diesen ganzen Sticheleien auf und halten zusammen? Ja, das tun wir. Und jetzt versuch du es auch einmal. Gut, wie du meinst. Ich erlange die Kontrolle auf meinen Körper zurück und Fog nimmt ihre Stellung als innere Stimme wieder ein. So, und jetzt erst einmal langsam. Schritt für Schritt. Versuche den mittelgrossen Stein dort am Ufer einfach nur anzuheben und etwa zwei Meter über dem Boden stehen lassen. Erst wenn ich es dir sage, lässt du ihn sorgfältig zurück auf den Boden schweben, in Ordnung? Ja. Also gut, leg los!

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The Night Wolf
WerewolfTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...