Kapitel 9

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Talyas Pov.

Verwirrt schlage ich meine Augen auf. Ich liege in einem weissen Raum und an meinem Bett Ende steht ein Mann. Ich versuche, meine verschwommene Sicht wegzublinzeln. An meinem Bettende steht Dylan. Besorgt blickt er mich an. Leise frage ich: ,,Wie lange war ich weg?" Er runzelt kurz die Stirn und antwortet mir ebenfalls im Flüsterton: ,,Ich schätze etwa fünf Minuten. Ich bringe dich nach Hause." Mit diesen Worten hebt er mich hoch und trägt mich in die Richtung des Ausganges der Krankenstation. Während er das tut, beginne ich mich zu erinnern, was vor nicht mal zehn Minuten geschehen ist.

Ich denke, er ist nun misstrauisch. Seine Kraft hätte einen normalen Menschen längst getötet. Bevor ich weiter überlegen kann, ertönt vor uns eine Frauenstimme: ,,Sie können sie nicht einfach mitnehmen! Wer sind sie überhaupt!?" Ich spüre, wie mein Bruder sich anspannt. Zum Glück hat eine deutlich bessere Beherrschung als andere Kandidaten. Hust, Ascan, Hust. Ich verkneife mir ein Grinsen. Von Minute zu Minute werde ich wieder kräftiger. Selbst ein Werwolf wäre noch nicht aufgewacht, so sehr hat Ascan zugedrückt. Deshalb stelle ich mich nach wie vor ohnmächtig.

In diesem Moment antwortet Dylan mit einer ziemlich entspannten Stimme: Ich bin ihr Cousin und bin Arzt. Ich höre die Frau schnauben: Ach ja? Das könnte jeder sagen. Bringen sie sie sofort zurück auf ihre Liege. Mein Bruder lacht kurz auf. Haben Sie schon mal von einem gewissen Dylan Clark gehört? Ohne meine Augen weiss ich, dass die Frau nun nickt und etwas verwirrt dreinschaut. Denn Dylan ist als Arzt nicht gerade unbekannt, jedenfalls nicht unter Ärzten. Er ist einer der jüngsten Ärzte gewesen und dazu noch ein sehr guter. Ich muss zugeben, auf schulischer Leistung ist er definitiv besser gewesen als ich jetzt.

Mein Bruder fährt fort: ,,Zufälligerweise bin ich der und das ist, wie ich schon erwähnt habe, meine Cousine. Nun lassen Sie mich durch." Ich höre, wie die Schwester ihm etwas zögernd Platz macht. Wie gesagt, er ist nicht gerade Unbekannt. Aber da dies nur als Arzt gilt, ist es nicht so schlimm und wie gesagt, er darf ja ein Werwolf sein. Voll und ganz sein, nicht so wie ich. Ich spüre die Zufriedenheit von Dylan, als er sich auf den Weg nach draussen macht. Obwohl er mein Bruder, für die Meisten mein Cousin, ist, dürfte ich nicht wissen, was Werwölfe sind und das er einer ist. Darauf liegt die Todesstrafe. Unter Werwölfen gibt es viele Regeln und für viele gibt es Bestrafungen.

Ich denke, Ascan hat schon ziemlich viele Bestrafungen abbekommen. Glaube ich auch. Jalina hat es uns aber auch sehr verharmlost gesagt. Denn ohne guten Grund andere zu verletzen, wird in den Meisten Rudeln mit Gefängnis bestraft, je nachdem, wie schwer verletzt der andere ist. Wenn jemand getötet würde, ohne dass der Mörder einen Grund dafür hatte, würde auch der Mörder getötet werden. Harte Gesetze, aber so läuft das nun mal unter den Werwölfen. Dylan läuft zu unserem Auto und legt mich auf die Rückbank. Mit den Jahren haben wir beide nämlich gelernt, anderen etwas vorzuspielen. Und das so gut, das man uns eigentlich immer glaubt.

Ich öffne meine Augen nicht, bewege mich nicht, ich tue schlicht und einfach gar nichts. Mithilfe des Mind-Links fragt mich Dylan: *Was ist passiert Tal?* Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Nur er durfte diesen Spitznamen benutzen, jedem anderen hätte ich wohl schon längst den Kopf abgerissen. Also nicht wortwörtlich, ich bin nicht darauf aus, einfach zu sterben. Nicht? Also die Aktion vor nicht mal zehn Minuten zeigt etwas anderes. Es war das Einzige, was ich tun konnte, um nicht vor Panik irgendwelche Dummheiten zu machen. Ich sortiere noch einmal meine Gedanken, dann antworte ich ihm: *Er wollte sich wohl an mir rächen. Doch dann habe ich eine Vision empfangen und bin zusammengekracht.*

Er schweigt kurz und schient nachzudenken. *Und danach?* Etwas verwirrt frage ich ihn zurück: *Was danach?* Ich kann förmlich spüren, wie er seine Augen verdreht. Dann antwortet er mir: *Du kannst mir nichts vormachen. Dein Hals war blau. Ich nehme an, er hat dich gefragt, was das war und du hast ihm nicht geantwortet. Dann hat er dich gewürgt. Stimmt das?* Überrascht antworte ich ihm erst nicht. Woher weiss er nur immer, was wirklich passiert ist?! Er ist ein Superhirn, schon vergessen? Dazu kann er noch gut kombinieren und kennt uns besser als sonst jemand.

Ich weiss, ich weiss. Ich höre wieder Dylans Stimme in meinem Kopf: *Wenn du nicht antwortest, nehme ich mal an, ich habe recht, nicht wahr?* Ich zögere diesmal nicht und antworte ihm schnell: *Ja, hast du.* Dann schweigen wir beide und hängen unseren eigenen Gedanken nach. Mir geht es inzwischen wieder genauso gut wie vorher. Doch auf einmal packt mich eine Angst. Ich habe nämlich kurz die Kontrolle über meinen Geruch verloren. Könnte es sein, das er mich gerochen hat? Könnte es sein, dass er weiss, dass ich kein Mensch bin? Es kann gut sein. Allerdings muss der Geruch sehr schwach gewesen kein, denn wir haben die Kontrolle nur für wenige Sekunden verloren.

Das ändert die Sache nicht grossartig. Doch. Wahrscheinlich konnte er den Geruch nicht einordnen. Das könnte sein. Trotzdem, wir müssen vorsichtiger sein. Sonst wird Kyle Vodrej uns noch finden... Schon allein bei seinem Namen packt mich blanke Panik. Er wird mich markieren wollen, damit ich ihm zu noch mehr Macht verhelfe. Schon allein bei diesem Gedanken schaudert es mich. Endlich kommen wir Zuhause an und Dylan trägt mich hinein. Ich tue so, als wäre ich noch immer ohnmächtig. Erst wenn die Vorhänge vor meinem Zimmerfenster zugezogen sind, werde ich mich wieder regen. Dylan trägt mich die Treppe hoch und legt mich schliesslich auf mein Bett. Dann zieht er die Vorhänge zu und geht noch einmal aus meinem Zimmer.

Unten auf dem Sofa sitzt nämlich eine besorgte Jalina. Sofort habe ich sie bemerkt, auch dass sie markiert ist. Er redet kurz mit ihr. Ich konzentriere mich gar nicht auf ihr Gespräch, denn ich weiss, dass mein Bruder sie bittet, dass sie kurz in den Wald laufen gehen soll, damit er mich in Ruhe untersuchen kann. Tatsächlich verlässt sie kurz darauf das Haus. Ich höre Dylans Schritte auf der Treppe. Er kommt in mein Zimmer, schliesst die Tür und setzt sich auf meine Bettkante. Er mustert mich kurz und sagt dann leise: ,,Ich werde dich die nächsten drei Wochen krankschreiben lassen. Ich mache gleich alles dafür bereit."

Ich nicke nur kurz. Er lächelt mir kurz zu, dann macht er sich auf den Weg zur Tür. Doch bevor er hinausgehen kann, frage ich leise: ,,Könnte ich nicht mal mitkommen, wenn du laufen gehst?" Er schnellt regelrecht herum und blickt mich verdattert an. Eilig setze ich hinzu: ,,Ich möchte einfach durch den Wald spazieren. Als Mensch." Dylan zögert. Er scheint abzuwägen, wie sicher das Ganze für mich ist. Schliesslich nickt er zögernd. ,,Heute Abend, in Ordnung?" Ich nicke begeistert und er verlässt daraufhin das Zimmer. Endlich! Endlich wieder in den Wald! Ich bin nicht weniger euphorisch als Fog, doch ich frage mich, ob das eine gute Idee ist.

Mir passiert wahrscheinlich eher weniger, da ich meinen Geruch nun wieder Perfekt unter Kontrolle habe. Nachdenklich beisse ich auf meiner Unterlippe herum. Wir waren vier Jahre lang nicht mehr in einem Wald! Ich weiss Fog, ich weiss. Aber was ist mit Dylan? Wenn sie ihn in seiner Wölfischen Gestalt bei mir sehen, ist es aus mit ihm. Es steht die Todesstrafe darauf, einem Menschen, der kein Mate ist, etwas zu erzählen oder zu zeigen. Verzweifelt raufe ich mir die Haare. Er muss sich ja nicht verwandeln! Wir fragen ihn einfach vorher nochmal, in Ordnung?

The Night WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt