Kapitel 38

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Ungeduldig harre ich aus. Wartend. Ich spüre Ascans Gefühle gedämpft, wie ein Echo, ohne einen Widerrufer. Dies kommt wohl davon, weil er nicht gerade nah ist. Doch er müsste gleich wiederkommen, denn er nannte mir den Mittag, spätestens frühen Nachmittag als Zeitpunkt, an dem er zurückkehren werde. Nun ja, jetzt ist früher Nachmittag. Er ist aufgebrochen, um alles noch einmal genau abzuklären. Er schickte schon dreimal Botschafter zu den Eindringlingen, doch jedes Mal wurden sie zurückgeschickt, mit der Nachricht, dass sie nicht kooperieren und nicht sofort für immer diese Gegend verlassen werden. Heute kehrte die letzte, dritte Botschaftergruppe zurück.

Somit stand fest, dass der Angriff morgen definitiv stattfinden würde. Auf einmal nehme ich wahr, wie sich Ascans Gefühle verstärken. Blitzschnell stehe ich auf und renne los. Ascan, der im schnellen Schritt aus dem Wald kommt, reisst erschreckt die Augen auf, als ich mit vollem Tempo auf ihn zurase. Kurz vor ihm komme ich schlitternd zum Stehen. Belustigt blickt Ascan mich an: ,,So eilig? Hast du mich so sehr vermisst?" Verschmitzt grinst er mich an. Ich verdrehe nur die Augen, bevor ich ihm antworte: ,,Das auch, doch ich möchte dir vor allem etwas erklären." Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe in einem schnellen Geh Tempo los.

Überrascht stelle ich fest, das Ascan mir nicht folgt. Verwirrt drehe ich mich um. Mit verschränkten Armen hat sich Ascan nicht vom Fleck bewegt. Verdutzt starre ich ihn an. Als Antwort auf meinen anscheinend äusserst amüsanten Gesichtsausdruck zuckt er nur lächelnd die Schultern und meint: ,,Ohne eine richtige Begrüssung? Ich seufze leise, bevor ich wieder auf ihn zugehe. Ich ziehe ihn in eine feste Umarmung, vielleicht ein wenig fester als normal. Wahrscheinlich spürt er das nicht mal. Als ich mich schnell wieder von ihm löse, ist nun sein Gesichtsausdruck perplex. Wahrscheinlich hat er mir richtiger Begrüssung eher an ein "Hallo" oder so gedacht. Möglicherweise.

Ich gehe ein paar Schritte in die Richtung des Hauses, bevor ich mich noch einmal fragend blickend nach ihm umsehe. Er seufzt leise auf, doch schliesslich folgt er mir. Mit wenigen Schritten war er direkt neben mir, doch wir sprachen nicht, liefen nur geradewegs auf den Eingang zu. Im Wohnzimmer angekommen setze ich mich auf das Sofa, Ascan neben mich. Interessiert sieht er mich an. Ich räuspere mich kurz, dann schildere ich ihm Fogs Plan. Er hört mir schweigend zu. Als ich geendet habe, spricht er noch immer nicht, betrachtet mich nur nachdenklich, obwohl er mich gar nicht zu sehen scheint.

Wahrscheinlich unterhält er sich mit seinem Beta oder seinem Vater, oder aber doch mit Silver, seinem inneren Werwolf. Apropos, den möchte ich auch einmal kennenlernen. Am besten heute. Wir werden sehen. Endlich beginnt Ascan zu sprechen: ,,Wir werden es machen. Ich habe gerade Charly Bescheid gesagt." Ich nicke nur leicht. Wer zur heiligen Mondgöttin ist nochmal Charly?! Du Holz, das ist sein Beta! Oh. Wusste ich natürlich. Das glaubst du ja selber nicht. Könntest du mir bitte einen Gefallen tun? Lass mich raus, ich möchte Silver kennenlernen! Aber bitte gehe es ruhig an. Jaja. Ich meine es ernst, ansonsten bleibst du auf ewig da drin.

Ist ja schon gut. Ich versuche es. Fog? Ja, ich habe verstanden. Na also. Ascan sieht etwas verwirrt aus, als ich ihn wieder direkt ansehe. Gut, es wundert mich nicht wirklich, schliesslich war ich ja für kurze Zeit abwesend gewesen. ,,Ascan? Nun ja... ähm... Fog würde gerne Silver kennenlernen..." Er lächelt mich leicht an, bevor er sagt: ,,In diesem Fall lasse ich Silver raus... oder wie auch immer man das nennen sollte." Ich lache leicht, dann schliesse ich die Augen und lasse Fog die Überhand nehmen. Wie in einem Film bekomme ich mit, wie Fog sich sofort an Silver herankuschelt und sich mit ihm unterhält.

Ich schalte einfach ab und gehe noch einmal den Plan durch. Kurz kommt mir der Gedanke, was alles passieren könnte. Das ganze Rudel könnte sterben. Mein Bruder könnte sterben. Ascan könnte sterben. Ich könnte sterben. Es könnte jeden treffen. Was ich am schlimmsten fände? Wenn das ganze Rudel nicht mehr existieren würde, denn das wäre das Verhängnisvollste. Zwischen Ascan und Dylan fällt die Entscheidung schwer. Zu schwer, um sie zu treffen. Dylan ist mein Bruder, der mir immer beistand, dem mein ganzes Vertrauen gehört. Er ist das letzte Überbleibsel meiner Familie, die einzige positive, lebendige Erinnerung an meine Kindheit.

Und dann ist da Ascan, den ich erst seit etwa einer Woche kenne. Dennoch kommt es mir so vor, als hätten wir bereits Jahrzehnte miteinander verbracht. Kein Mensch würde das verstehen, denn Werwölfe sind keine Menschen. Sie sind sehr verschieden, umso älter der Werwolf, umso weniger erinnert er an einen Menschen. Natürlich sieht er in menschlicher Form noch immer aus wie ein normaler, vielleicht etwas besser aussehenden Menschen. Doch er versteht Menschen immer weniger, ist angeekelt von ihrer egoistischen Gesellschaft. Werwölfe würden nie sich selber vor ihr Rudel setzen. Nun ja, die Meisten jedenfalls. Ausnahmen bestätigen die Regel.

,,Ich bin übrigens müde Fog und ich sollte dich auch wieder ablösen." Jaja. Ich höre und sehe noch, wie sie sich liebevoll von Silver verabschiedet, sich dann aber brav zurückzieht. Ich gewinne wieder die Kontrolle über meinen Körper zurück. Vorsichtig strecke ich mich, bevor ich erleichtert seufze. Das Gefühl, keinen richtigen Körper zu haben, ist nicht besonders angenehm. Wem sagst du das? Aber du bist dir das gewöhnt, und ausserdem wurdest du dafür geschaffen! Das stimmt natürlich auch wieder. Ich muss gähnen und auf einmal fällt mir auf wie müde ich eigentlich bin. Bittend blicke ich Ascan an: ,,Könnten wir bitte schlafen gehen?"

Du weisst schon, dass man dies falsch verstehen könnte. Ouh verdammt, stimmt. Hoffentlich denkt er nicht so! Ascan ignoriert anscheinend die Zweideutigkeit des Satzes und stimmt mir zu. Gemeinsam gehen wir nach oben. Vorsichtig nimmt er meine Hand, ich umschliesse diese fest mit meinen Fingern und benutze ihn so ein wenig als Stütze. Nachdem ich im Bad war und mich umgezogen habe, liege ich mit dem Rücke auf dem Bett und starre an die Decke. Ascan ist noch im Bad, leise höre ich das Rauschen der Dusche. Doch trotz der relativ guten Aussichten, den Kampf zu gewinnen, plagt mich etwas.

Finstere Gedanken schleichen sich immer weiter nach vorne, scheinen alle motivierenden und positiven Aussichten auf morgen regelrecht aufzufressen. Ascan könnte morgen sterben. Dylan könnte dies zwar auch, doch er ist ein Heiler, er ist also nicht direkt am Kampf beteiligt. So mache ich mir besonders Sorgen um das Rudel, und auch Ascan. Es ist inzwischen leichter für mich zu akzeptieren, dass wir füreinander bestimmt sind. Die Mondgöttin wollte es so, und mit ihrer Entscheidung beeinflusste sie mich, dass ich mich in ihn verliebte. Für Menschen ist es nicht bis kaum möglich, sich in so kurzer Zeit so sehr zu verlieben und diese Person so zu kennen, dass man beinahe jedes Verhalten voraussagen kann.

Dies ist bei Werwölfen entscheidend anders. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlen würde, wenn er weg wäre. Wäre es Schmerz, der mich auffressen würde? Wenn ja, würde er sich einnisten und mich langsam zerfressen, oder würde er mit voller Wucht auf mich zu kommen und mich mit einem Schlag treffen? Oder wären es Todesqualen, die mich dazu veranlassen würden, Ascan nachzufolgen? Oder aber würde ich mich einfach leer fühlen, allein, gefühllos? Es muss schliesslich einen Grund geben, warum so wenige Werwölfe noch leben, die ihren Mate verloren haben. Ich setze mich auf.

Eine einzelne Träne rinnt mir die Wange hinab, ohne dass ich sie richtig bemerke. Immer tiefer fressen sich die finsteren Gedanken der zerreissenden Furcht und Besorgnis, ohne dass ich es verhindern könnte. Mein Blick schweift zum Fenster, draussen ist es dunkel. Dennoch zeichnet sich der düstere, dichte Wald deutlich vor dem Himmel ab. Das fahle Licht des Mondes scheint schwach in das Zimmer. Wie in Trance schliesse ich meine Augen, und augenblicklich habe ich das Gefühl zu fallen. Immer tiefer, immer schneller. Ich kann mich nicht bewegen, einzig dieses Gefühl beherrscht mich. Immer tiefer und tiefer. Immer schneller und schneller. Ohne je den Boden zu erreichen. Immer weiter. Immer tiefer.

The Night WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt