Talyas Pov.
Wir waren bereits früh wach und trafen letzte Vorbereitungen. Ich versuchte mich abzulenken und gleichzeitig bereitete ich mich innerlich auf alles vor. Doch nun ist es so weit. In wenigen Augenblicken werden wir aufbrechen. Alle anderen Einheiten sind bereits auf ihren Positionen, einzig unsere ist noch nicht an ihren Plätzen. Allerdings war dies auch der Plan. Ich suchte mit den Augen nach Ascan, denn in dem ganzen Geruchswirrwarr ist es mir zu anstrengend, seinen Geruch herauszufiltern. Aber er scheint in den Massen der Rudelmitglieder nicht aufzufinden zu sein. Also betrachte ich das Geschehen um mich herum. Jeder verabschiedet seine Angehörigen.
Manchen stehen Tränen in den Augen, andere wiederum wirken, als würden sie sich auf das Bevorstehende freuen. Bell und Charly stehen beieinander, sich vielleicht das letzte Mal küssend. Savannah, die ihre Eltern, ihre Cousine und ihren Bruder verabschiedet. Ascan. Raschen Schrittes gehe ich auf die Gruppe zu. Auch mein Bruder ist dort. Allerdings wird er nicht mitkämpfen, da er einer der Heiler des Rudels anderweitig gebraucht werden wird. Um ihn muss ich also schon einmal nicht fürchten. Es wird schon alles gut gehen! Aber was wenn nicht Fog? Was, wenn nicht alles gut wird? Was für Folgen könnte dies haben, wenn wir diesen Kampf trotz allem verlieren?
Du darfst nicht daran denken. Wenn du mit dieser Einstellung heran gehst, kann ja nur alles schieflaufen. Ja, ich weiss. Im Stillen gehe ich noch meinen ganz eigenen Plan durch. Fogs ersten Plan haben wir ja bereits Ascan mitgeteilt, doch nun verfolge ich einen anderen. Einen, der ganz ohne jegliche Kämpfe oder Verletzungen geht. Sobald das verfeindete Rudel in Sicht kommen würde, werde ich meine Kräfte einsetzen, um sie alle in die Lüfte zu bewegen. Dort können sie sich nicht wehren und müssten sich zwangshalber ergeben. Noch habe ich noch nie ein Lebewesen mithilfe meiner Kräfte beeinflusst, geschweige denn in die Lüfte gehoben, doch das würde schon funktionieren.
Auch wenn Ascan mit erklärt hat, das Werwölfe grundsätzlich vieles mithilfe Gewalt lösen, bin ich anderer Meinung. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass ich einfach anders aufgewachsen bin. Ich lebte bis vor kurzem nie in einem Rudel, oder hatte mit anderen Werwölfen als meiner Familie Kontakt. Bis auf diesen einen Zwischenfall, denn man jedoch nicht wirklich als Kontakt bezeichnen kann. Sanft drücke ich mich an zwei Geschwistern vorbei, die sich eng umschlungen gegenseitig Mut zusprechen, um weiter auf Ascan und Dylan zuzugehen. Umso mehr ich diese Gemeinschaft, ja, diese grosse Familie verschiedenster Charaktere und Talente betrachte und kennenlerne, desto grösser wird meine Entschlossenheit, sie vor allem Schlimmen zu bewahren immer grösser.
Keiner von ihnen hat mich je beleidigt, noch haben sie sich untereinander angefeindet. Bei Menschen wäre dies eine beinahe unmögliche Art und Weise des Zusammenlebens. Denn wenn ich etwas in diesen vier Jahren, die ich mit Menschen verbracht habe, gelernt hatte, dann, dass beinahe jeder Mensch schon einmal hinter dem Rücken eines anderen gelästert hat, auch wenn dieser einer seiner besten Freunde war. Sobald ihnen auch nur etwas nicht gefiel, zerbrachen jahrelange Freundschaften und Beziehungen. Bei Werwölfen wäre dies so gut wie unmöglich. Sobald ein Werwolf einmal jemand in sein Herz geschlossen hatte, würde er sein Leben lang dieser Person gegenüber treu und ehrlich sein.
Natürlich gibt es auch unter unsereins Ausnahmen, aber Ausnahmen bestätigen ja die Regel. Ich atme noch einmal tief durch, dann trete ich zu dem kleinen Grüppchen. Wir unterhalten uns nur kurz über den groben Ablauf, der nun folgen wird. Dann meint Ascan, dass wir in zwei Minuten aufbrechen werden. Ich nicke nur kurz und verabschiede mich mit einer kurzen Umarmung von Savannah. Tisana, George, Ascan und Jalina werden sowieso mitkämpfen, also müssen wir uns nicht verabschieden. Dylan drückt mich fest an sich und ich erwidere die Umarmung. Als wäre er mein letzter Halt in einem schier unendlichen Ozean klammere ich mich regelrecht an meinen Bruder, mein letztes verbliebenes Familienmitglied.
Leise flüstert er mir zu: ,,Pass auf dich auf meine Kleine. Ich will dich nicht auch noch verlieren..." Ich drücke ihn noch näher an mich, dann antworte ich ihm in derselben gesenkten Lautstärke: ,,Werde ich. Pass bitte auch auf dich auf." Er lässt mich los, legt aber seine Hände auf meine Schultern und blickt mir eindringlich in die Augen. Ich nicke und verabschiede ihn mit den Worten: ,,Leb wohl." Dann drehe ich mich zu Ascan, der bereits alle verabschiedet hat. Er verwandelt sich in seine Wolfsgestalt und ruft mit einem lauten Heulen sein verbliebenes Rudel zusammen.
Wie auch alle anderen, die heute ihr Leben aufs Spiel setzen, verwandle ich mich und stelle mich neben Ascan. Mit einem letzten Blick zu Dylan und allen anderen Verbliebenen, die uns besorgt nachstarren, wende ich mich zum Gehen. Jeder von ihnen hatte diese Furcht in den Augen. Diese Angst, jemanden zu verlieren, der einem am Herzen liegt oder womöglich sogar das ganze Rudel zu verlieren. Ich schliesse kurz die Augen, um all diese Eindrücke auszublenden. Die zurückgelassenen Rudelmitglieder inmitten der Lichtung, die Angst, die jeder von ihnen im Herzen trägt. Bleib ruhig. Wenn du jetzt durchdrehst, wird es auch nicht besser! Fokussiere dich auf deine Aufgabe, das ist das Beste was du nun tun kannst.
Aber ich bin verantwortlich Fog, denn nur wegen mir bricht dieser Krieg aus! Er wäre womöglich auch so ausgebrochen. Diese Ländereien hier sind begehrt unter den Werwölfen, das weisst du. Auch sind sie in das Gebiet eingedrungen, sie haben es also provoziert. Ich weiss nicht... Vergiss das alles. Konzentriere dich! Das ist schwerer, als gesagt Fog. Aber ich gebe mein Bestes! Wir können nur hoffen, dass das ausreicht... Das stimmt. Mit aller Macht lenke ich meine Gedanken zurück auf meine Aufgabe. Fokus. Ich seufze leise, bevor ich mich wieder umsehe. Ascan trabt im ruhigen Tempo neben mir, sein Muskelspiel zeichnet sich gut unter seinem fast schon silbernen Fell ab.
Seine ungewöhnlichen Augen in beinahe derselben Farbe strahlen noch mehr als je zuvor voller Entschlossenheit. Doch ich spüre auch seine Furcht in seinem Herzen. Er hat Angst, wie jeder von uns. Doch zugleich ist er fest entschlossen, sein Rudel mit seinem Leben zu schützen. Hoffentlich muss es nicht so weit kommen... Ich stimme Fog nur stumm zu. Er ist neben Dylan mein einziger Halt. Einer der wenigen, bei deren Anwesenheit ich nicht angespannt bin und ich einfach loslassen kann. Auch wenn er der Meinung ist, ich würde ohne ihn leben können, weiss ich genau, wie schwer das werden würde.
Ich wende meinen Blick von ihm ab und sehe nach hinten. Hinter uns läuft ein Teil des Rudels. Jede Bewegung ist geschmeidig und nun, da ich sie alle so sehe, sehen sie aus wie ein Fluss, der dahinfliesst. Friedlich und sorglos. Ich schlucke schwer, denn ich weiss, wie sehr jeder um sein Leben und das der anderen fürchtet. Und doch sind sie nun hier, bereit ihr Leben zu geben, um das ihres Rudels zu retten. Ich reisse mich zusammen und blicke nach vorne. Nur noch wenige Meter trennen uns von dem Platz, an dem alles stattfinden wird. Ascan hebt auf einmal leicht die Rute an.
Sofort bleiben alle stehen und er dreht sich zu ihnen um. Er mustert jeden von ihnen einzeln und jeder nickt kurz, als sein Blick auf ihn fällt. Als letztes fällt sein Blick auf mich. Sanft mustert er mich und auch ich gebe ihm mit einem leichten nicken zu verstehen, dass ich bereit bin. Vielleicht das aller letzte Mal trete ich ein paar kleine Schritte vor und schmiege meinen Kopf an seinen. Er erwidert die Geste und ich kann seine Stimme in meinem Kopf hören: * Pass auf dich auf. * Ich trete einen Schritt zurück und sehe ihm in seine silberblauen Augen.
Dann erwidere ich: * Ich versuche es. Du solltest dies auch tun, dein Rudel braucht dich. Ich brauche dich... * Seine Mimik verändert sich und wenn er nun in Menschengestalt gewesen wäre, hätte er jetzt wohl gelächelt. Dann wendet er sich ab und gibt mit leichtem wedeln der Rute das Zeichen, auf die Lichtung zu treten, die nur noch wenige Meter vor uns liegt. Ohne zu zögern treten alle auf die Lichtung. Doch für mich heisst dieses Zeichen etwas anderes. Ich habe meinen Geruch bereits auf dem ganzen Weg verborgen und tue dies auch weiterhin. Doch ich laufe um die Lichtung herum und verkrieche mich in einem dichten Dickicht, das leicht abseits steht, von dem man aber dennoch gut das Geschehen beobachten kann.
Dann warte ich. Harre aus, wie auch mein Rudel es macht. Die Ohren gespitzt, um auch nur das leiseste Geräusch zu hören.
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The Night Wolf
WerewolfTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...