Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir unterwegs waren, allerdings nicht besonders lange. Dennoch genug Zeit, um mir einen Plan zurechtzulegen. Ich brauche unbedingt meine Brille und muss so tun, als würde ich ohne sie nicht so gut sehen. Dann muss ich noch so tun, als wüsste ich nichts von Werwölfen und Mates. Und gleichzeitig muss ich noch diese ganzen verwirrenden Gefühle bekämpfen. Das wird verdammt schwer... Glaube ich auch. Aber etwas müssen wir wenigstens nicht vorspielen... Was meinst du? Angst. Die haben wir auch so. Ja, definitiv. So wie jetzt zum Beispiel... Ja. Es ist aber leider nicht nur Angst.
Irgendwie will ich ihm einfach nah sein und nicht mehr ohne ihn sein. Aber ich weiss, dass dies so ist, weil er mein Mate ist. Und ich weiss, dass ich dies loswerden kann. Ja, das können wir. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir das schaffen, liegt bei höchstens einem Prozent. Und ausserdem ist mir noch etwas eingefallen... Was? Nun ja...eigentlich sollten wir halbtot im Bett liegen oder nicht? Verdammt... Und wir sollten Dylan benachrichtigen. Ja, das sollten wir besser tun, sonst kriegt er noch einen Anfall. Ich versuche mich auf Dylan zu konzentrieren, doch das gestaltet sich schwerer, als man meinen könnte.
Ich versuche die Angst vor Ascan zu ignorieren. Doch dies ist recht schwierig, wenn der dich gerade durch den Wald trägt und du dich gleichzeitig zu ihm hingezogen fühlst, von ihm wegwillst und verdammt verunsichert bist. Das ist eigentlich ungewöhnlich. Es ist glaube ich jedenfalls, noch nie vorgekommen, dass sich ein Mate-Teil nur halb von dem anderen angezogen fühlt. Vor allem als Werwolf. Wir sind halt nicht ganz normal, okay? Jap. Im Kopf sind wir definitiv nicht normal. Halt jetzt einfach die Schnauze, ich versuche mich zu konzentrieren! *Dylan?* Ich warte kurz und versuche Ruhe zu bewahren.
Die Panik schnürt mir beinah die Luft ab, aber ich muss meinen Herzschlag möglichst ruhig halten. Du weisst genau, dass es nicht nur die Panik ist, die das verursacht. Ich weiss. Aber diese vielen Gefühle, von denen ich manche das erste Mal spüre. Ich fühle mich sehr zu Ascan hingezogen und ertrage schon den blossen Gedanken nicht, weit von ihm weg zu sein. Das Verwirrende jedoch ist, dass ich gleichzeitig einfach nur weg will. Und während ich von Ascan durch den herbstlichen Wald getragen werde und auf Dylans Antwort warte, stelle ich fest, dass ich Ascan gleichzeitig verabscheue, hasse aber auch liebe.
Wenn ich mich nicht ohnmächtig stellen müsste, hätte ich wohl verwirrt den Kopf geschüttelt. Kurze Unterbrechung. Wann antwortet dieser Volltrottel von Bruder endlich? Er ist anscheinend nicht nur im Laufen langsam, sondern auch im Antworten! Anscheinend schon. Ich atme leise einmal tief ein und dann wieder aus. Ascan Geruch hüllt mich ein. Am liebsten würde ich flüchten, mich übergeben oder auch einfach weg von ihm. Aber genauso gerne will ich bei ihm bleiben. Keinen Schritt weg von ihm. Doch ich weiss, dass schlussendlich nur eine Seite dieser verwirrenden Gefühle bleiben kann.
Entweder ich gehe den einfacheren Weg und lasse die Zuneigung zu. Oder aber ich nehme den schwereren und kämpfe dagegen an, bis ich Ascan ablehnen kann. Beide Seiten haben Vor- und Nachteile. Entweder das Rudel von Ascan wird draufgehen, oder wir erleiden enorme innerliche Schmerzen. So ist es. Endlich etwas Geistreiches von dir. Hey! Das stimmt ni- Jaja, wie auch immer. Die plötzliche Antwort von meinem Bruder reisst mich aus meinen Gedanken. *Was ist los?* Ich überlege kurz, wie ich es am besten zusammenfassen kann. Ich werde ihm nichts von meinem ersten Waldbesuch seit Jahren erzählen. Ja, das ist wahrscheinlich besser.
*Ich war zuhause und noch etwas müde. Bis jemand vor meiner Tür stand. Mein Mate. Er drohte die Tür einzutreten und da habe ich aufgemacht. Dann habe ich realisiert, wer dass es ist und bi in den Wald geflüchtet. Er ist mir gefolgt. Ich bin extra gestolpert und habe mich dann ohnmächtig gestellt. Jetzt trägt er mich wahrscheinlich zum Rudel-Dorf.* Ich höre kurz nichts von ihm, nur das Rascheln der Blätter und Ascans schnelle Schritte. Dann fragt mich mein Bruder langsam: *Ist Ascan dein Mate?* Mir wäre beinahe die Kinnlade heruntergeklappt. Wieso weiss er das?! Gute Frage.
Verblüfft frage ich Dylan: *Woher weisst du das?* Wieder höre ich kurz nichts, dann antwortet Dylan vorsichtig: *Nun, heute war die Alpha-Zeremonie. Er ist nun...ein Alpha.* Erschrocken antworte ich ihm erstmal gar nichts. Verdammt. Ich wusste ja, dass er irgendwann mal vielleicht ein Alpha wird, doch dass das so schnell geht, wusste ich nicht. Ein Rudel ohne Luna funktioniert nicht. Jedenfalls nicht lange... Und ausserdem sind Alphas noch besitzergreifender als normale Werwölfe schon. Und wie ich gehört habe, ist Ascan sogar für einen Alpha sehr besitzergreifend. Wir sind am Arsch. Jep, und wie...
*Talya!* meldet sich Dylan plötzlich. Schnell antworte ich ihm: *Was ist los?* Fast sofort schiesst Dylan los: *Ascan hat mich gerade gerufen, da sein eigentlicher Rudelarzt gerade nicht hier ist. Also muss ich das übernehmen. Du kannst eigentlich kaum laufen, aber das Adrenalin von vorhin hat dir neue Kraft verliehen. Alles klar?* *Aye, Aye Captain!* Innerlich seufze ich auf. Warum musste ich ausgerechnet ihn als Mate haben? Warum Mondgöttin? Bin ich nicht schon genug gestraft?! Anscheinend nicht. Auch wenn er echt verdammt gut aussieht. Er sieht schon nicht schlecht aus, aber- Nicht schlecht?! Mädel, der Typ ist unglaublich gutaussehend!
Eben. Nicht schlecht, aber sein Charakter zerstört alles. Und dass er mein Mate ist. Und dass er Alpha ist. Also ist er zum grössten Teil scheisse. Wenn du es so ausdrücken willst...ja. Na toll. Und ich habe mich so auf unseren Mate gefreut! Tia, Pech. Ich habe gesagt, wir sollten so schnell wie möglich abhauen. Ist dir etwas aufgefallen? Was? Während wir gestritten haben, hattest du keine Angst. Kaum hat Fog diesen Punkt angesprochen kehren meine Gefühle mit voller Wucht zurück, da sie wohl kurz unterdrückt wurden. Fast zeitgleich wird Ascan etwas langsamer und ich merke, dass er eine Treppe hochsteigt.
Dann öffnet er eine Tür und schliesst sie wieder. Der Typ ist doch nicht so unbegabt! Er hat die Tür aufgeschlossen, geöffnet und geschlossen, und dass alles nur mit einer Hand. Gleichzeitig hat er uns auf einem Arm getragen! Ja, der Typ ist unnormal. Auf vielen Bereichen. Er ist unnormal aggressiv, macht mir unnormal Angst und ist unnormal stark. Und sieht unnormal gut aus... Jaja. Ich versuche weiterhin, meinen Herzschlag zu beruhigen, was mir von Sekunde zu Sekunde schwerer fällt. *Beeil dich! Wo bringt er mich überhaupt hin?* frage ich meinen Bruder.
Nur kurze Zeit später antwortet er mir: *Ich mache so schnell ich kann! Und er... bringt dich in sein Haus.* Der Typ hat ein eigenes Haus?! Anscheinend du Dumpfbacke. Ich merke, dass ich eine Treppe hochgetragen werde und er dann mit seinem Ellbogen eine Tür öffnet. Ich höre seine schweren Schritte und spüre jeder seiner Bewegungen. In meiner Gefühlswelt sind nun vorherrschend Angst und Zuneigung. Ich weiss, dass schlussendlich nur eines dieser beiden Gefühle bleiben wird. Wenn überhaupt. Aber ich weiss, dass ich alles daransetzen werde, Ascan loszuwerden. Alles? Du würdest Pizza liegen lassen?! Ja, sogar das. Okay...du würdest echt alles dafür tun...
Ascan legt mich mit einer Vorsicht auf einem Bett ab, die ich ihm niemals zugetraut hätte. Danach streicht er mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Panik und Liebe, beide Gefühle bringen mich komplett durcheinander. Ich höre, wie Ascan einen Stuhl oder Sessel herbeizieht und sich dann neben dem Bett darauf hinsetzt. Ich weiss, dass er mich anstarrt und nur darauf wartet, dass ich aus meiner Ohnmacht aufwache. Ich versuche mein Gefühlschaos unter Kontrolle zu bringen. Fang einfach von vorn an. Gute Idee. Also, ich bin Talya Clark, bestreite soeben mein 16tes Lebensjahr und habe einen Bruder namens Dylan. Gut so. Weiter.
Ich bin ein Werwolf. Allerdings einer, der in einer Legende vorhergesagt wird und besondere Gaben hat. Ich bin der Nachtwolf mit den Sonnenaugen. Meine Eltern wurden von dem Bastard Kyle Vodrej getötet, nur um mich zu bekommen, was er allerdings nicht geschafft hat. Dylan und ich haben wegen meiner Legende unsere Eltern verloren. Sie sind wegen mir gestorben. Und Dylan wäre damals auch fast ermordet worden. Ich bin von einem Typ, den ich kaum kenne, fast erwürgt worden. Ich habe vor ihm eine meiner Visionen Empfangen. Danach bin ich seine Mate geworden. Nebenbei ist er noch ein Alpha. Und nun versuche ich ohnmächtig auszusehen und so bald wie möglich von hier zu flüchten.
All dies ist verdammt verwirrend für mich. Aber etwas weiss ich genau... Was denn? Ich werde Dylan niemals einfach so sterben lassen. Niemals!

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The Night Wolf
WerewolfTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...