Kapitel 15

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Ich fühle mich zunehmend unwohl. Noch immer sitzt Ascan auf dem Stuhl neben meinem Bett. Noch immer spüre ich seinen Blick unbewegt auf mir. Sein Herz schlägt schnell und ich spüre seine Furcht. Aber Furcht vor was? Hat er mich erkannt? Wenn ja, fragt er sich vielleicht, ob ich ihn nun hassen werde? Oder fragt er sich, ob es mir gut geht? Oder fragt er sich einfach nur, wie er nun das Rudel ohne Luna leiten soll? Ich weiss es auch nicht. Aber er ist schon süss oder? Ich dachte, du bist auf meiner Seite?

Bin ich ja. Aber er ist so hübsch, süss und riecht so gut Fog, er hat uns vor wenigen Stunden fast getötet! Ausserdem müssen wir so schnell wie nur möglich diese Gefühle loswerden und ihn ablehnen. Notfalls tut es halt verdammt weh, aber ich kann nicht zulassen, dass noch weitere Menschen wegen mir sterben müssen. Jaja. Ich versuche es ja. Aber der blosse Gedanke daran schmerzt schon. Tatsächlich spüre ich immer ein Ziehen in meiner Brust, wenn ich an meinen Plan denke. Doch gleichzeitig freue ich mich darauf, weit weg von ihm zu sein. Warum musste ich meinen Mate finden? Und warum ausgerechnet Ascan?!

Auf einmal nehme ich noch einen weiteren Herzschlag wahr. Er ist schwächer als Ascans, also ist er etwas weiter weg. Ich nehme an, die Person ist bei der grossen Eingangstür. Dann höre ich, wie die Tür sich öffnet und sich wieder schliesst. Danach schnelle Schritte. Als die Person die Treppe hinaufeilt, rieche ich auch, wer es ist. Dylan. Lahmarsch. Was braucht er denn solange? Endlich bist du wieder normal! Die Erinnerung wie er uns kaltblütig fast getötet hat, hat mich wieder wachgerüttelt. Zum Glück! Ich höre, wie Dylan Ascan kurz grüsst: ,,Alpha“, und sich dann auf die Bettkante setzt, um mich zu untersuchen.

Doch er wird von einem ohrenbetäubenden Knurren daran gehindert. Ich wäre beinahe zusammengezuckt, doch konnte mich in letzter Sekunde beherrschen und meinen Herzschlag einigermassen ruhig halten. Mein Bruder versucht Ascan zu beruhigen: ,,Ich tue ihr nichts, Alpha. Ich muss sie untersuchen, ausser du willst, dass ihr vielleicht nicht geholfen werden kann.“ Diese Worte scheinen meinen Mate zu beruhigen. Vorsichtig setzt Dylan an: ,,Du solltest besser aus dem Raum gehen, Alpha. Mach dir einen Tee oder so, ich kann besser arbeiten, wenn mir niemand auf die Finger schaut und mich anknurrt.“ Anscheinend ist Ascan damit einverstanden, denn nach kurzem Zögern steht er auf und verlässt den Raum.

Dylan fragt mich per Mind-Link: *Wie stehst du zu ihm?* Ich brauche nicht lange, um zu antworten, da ich mir schon die ganze Zeit über solche Gedanken gemacht habe. *Ich muss ihn ablehnen. Das Rudel und du dürfen wegen mir nicht in Gefahr kommen.* Nach ein paar Sekunden erwidert mein Bruder: *Wie du meinst. Ich werde dir jetzt eine Salbe am Hals auftragen, die ihn blau verfärbt, als wärst du gewürgt worden. Zum Glück trägst du ja einen Rollkragenpullover, so hat er deinen Hals wahrscheinlich noch nicht gesehen.* An was er nicht alles denkt! Und wir haben ihn beschimpft, dass er so langsam ist.

Jaja, es tut mir ja auch leid. Aber ich war und bin so verwirrt. Von meinen Gefühlen, die einfach nicht zueinander passen, dass ich Luna werden soll und das Ascan mein Mate ist. Also ist meine Aggressivität definitiv berechtigt. Ich werde von der eiskalten Salbe aus meinen Gedanken gerissen. Ich lege meine gesamte Konzentration darauf, dass mein Herzschlag nicht viel schneller wird. Plötzlich fängt die Stelle, wo die Salbe aufgetragen worden ist, an zu brennen. Ich unterdrücke einen Schmerzensschrei und versuche mich zu beruhigen. Doch ich spüre, dass mein Herzschlag nun in einem Wachzustand-Rhythmus ist.

Ascan wird bald im Zimmer sein. Ich weiss. Aber ich muss Dylan noch etwas fragen. *Dylan?* Schnell kommt seine Antwort: *Ja?* Ich überlege kurz, dann frage ich ihn: *Ich verhalte mich jetzt wie ein normaler Mensch, ja? Und ich habe noch eine Frage... ist es schon einmal vorgekommen, dass ein Mate-Teil sich zu dem anderen hingezogen fühlt, aber gleichzeitig verdammt Angst und Panik ihm gegenüber spürt?* Ich höre kurz gar nichts, dann eine leise Antwort: *Ich weiss es nicht...* Und genau in diesem Moment kommt Ascan ins Zimmer. Leise fragt er: ,,Sie wacht langsam auf, oder?“ Mein Bruder bestätigt es.

Und ich weiss, dass das nun ein Zeichen war, meine Augen zu öffnen. Blinzelnd öffne ich meine Augen. Dann blicke ich mich kurz mit grossen Augen um, als würde ich nicht verstehen, wo ich mich gerade befinde. Mein Blick wandert zu Dylan und schliesslich zu Ascan. Ich reisse meine Augen noch weiter auf. Für ein paar Sekunden, die Unendlich zu sein scheinen, starre ich ihm ängstlich in seine hellblauen, beinah silbernen Augen. Die sind viel schöner als unsere Hellbraunen! Schnauze. Ich sammle mich kurz, dann fange ich erst richtig an zu schauspielern. Mit zitternden Stimme schreie ich hysterisch auf: ,,Du!?“ Dann versuche ich hastig aufzustehen und wegzurennen.

Und ganz ehrlich, das ist auch mein wirklicher Impuls, natürlich gemischt mit diesen ganzen anderen, verwirrenden Gefühlen. Ich spiele meine Rolle als ängstliches, verletztes Menschenmädchen weiter und falle schon nach wenigen, unsicheren Schritten um. Doch Ascan eilt so schnell zu mir, dass er mich auffangen kann. Meine ganzen, verwirrenden Gefühle erdrücken mich beinahe, doch ich versuche sie zu ignorieren. Stattdessen schreie ich noch lauter und hysterischer als vorhin: ,,L-lass mich los! Geh weg von mir!“ Doch Ascan ignoriert meine Schreie und mein verzweifeltes, schwaches strampeln mit Armen und Beinen. Stattdessen legt er mich in das Bett zurück. Dann geht er etwas zurück und ich vermeide es, ihn anzublicken.

Dann fragt mich Dylan: ,,Tut dir etwas weh?“ Ich löse meinen Blick langsam von der Wand, um meinen Bruder zu fixieren. Langsam nicke ich. Ascan scheint es wohl nicht zu gefallen, dass ich ihn ignoriere und mich nur auf Dylan konzentriere, denn er knurrt leise vor sich hin. Dylan ignoriert ihn jedoch vorerst und stellt noch zwei Fragen: ,,Wo? Und wie schmerzhaft ist es?“ Ich fasse mir kurz an den Hals und tue so, als würde ich vor Schmerz zusammenzucken. Haben wir schon mal erwähnt, dass wir hervorragende Schauspieler sind? Wir? Wen meinst du alles? Na, uns beide und Dylan, wen sonst?

Weiss auch nicht. Eben. Und nun spiel weiter. Ich versuche Ascans Anwesenheit zu ignorieren, ihn zu vergessen, doch ich kann es nicht. Ich kann diese merkwürdige Mischung von Gefühlen nicht loswerden, so sehr ich es auch versuche. So etwas ist mir noch nie passiert. Dylan blickt mich eindringlich an: ,,Hast du Angst?“ Diesmal muss ich nicht einmal schauspielern, sondern kann ehrlich antworten. Ich nicke zur Antwort leicht. Ich vermeide es noch immer, Ascan anzusehen. Ich habe keine Ahnung, wie er gleich reagieren wird. Dylan runzelt die Stirn und stellt mir die letzte Frage: ,,Vor wem oder was hast du Angst?“

Mein Blick schnellt kurz zu Ascan, dann schaue ich eine Wand an. Mit zitternden Fingern und gesenktem Kopf zeige ich langsam auf Ascan. Diesmal blicke ich nicht weg, sondern warte ängstlich Ascans Reaktion ab. Nun ist kaum noch etwas von der Zuneigung für ihn übrig, ich habe nur blanke Panik, dass er nun wütend wird und mich definitiv umbringt. Mein ganzer Körper zittert vor Angst und ich kann nich gerade noch so dazu bringen, nicht zu fliehen. Dödel, er spürt die Schmerzen auch selber und verreckt dann auch. Also sterben würde er erst, wenn er mich markiert hätte oder wir uns gegenseitig als Mate annehmen und die Schmerzen sind so ebenfalls abgeschwächt für ihn. Ja gut, das habe ich vergessen... Panik! Ich schlucke schwer und die Sekunden die verstreichen, kommen mir wie Jahre vor.

Ascan steht wie versteinert da. Sein Gesicht ist ausdruckslos und leer. Dylan blickt vorsichtig von Ascan zu mir und wieder zurück. Ascan schüttelt kurz seinen Kopf und blickt mich dann an. Leise und mit gebrochener Stimme fragt er: ,,Wegen was alles?“ Ich schaue ihn fassungslos an. Das fragt er noch? Zu meiner Angst kommt nun Wut hinzu. Meine Stimme zittert etwas, ob vor Angst oder Wut kann ich nicht genau sagen: ,,Das fragst du noch? Du hast mich fast erwürgt! Du hast mich bedroht, ohne wirklich einen guten Grund zu haben. Du hast mich mitten in der Nacht geweckt, Worte gesagt, die ich null verstehe, mir verdammt Angst gemacht und hast mich anschliessen hierher verschleppt.

Und du knurrst! Wieso zum Geier kannst du Knurren?! Die Frage sollte eher sein, wie man keine Angst haben könnte!“ Er blickt mich nur ausdruckslos an. Ich frage mich, ob er mich jetzt tötet. Hoffentlich geht es schnell. Doch dann flüstert er leise: ,,Ich weiss. Ich wollte dich aber nie verletzen, glaub mir. Ich...ich weiss auch nicht, warum ich das getan habe. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen.“ Seine Stimme ist voll von Trauer und Reue. Als ich ihn nun so sehe, kommt wieder das Gefühl der Zuneigung in mir auf. Ich würde ihn gerne trösten, ihn umarmen, bei ihm sein. Doch ich darf, kann und will nicht.

The Night WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt