Kapitel 11

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Er wird immer etwas finden, was ihm zur Macht verhelfen kann. Immer. Ich will und kann aber nicht mehr dieses etwas sein. Ich will nicht mehr. Tränen steigen mir in die Augen und ich lasse mich langsam auf den Boden nieder. Ich will nicht mehr verdammt! Ich habe keine Kraft mehr. Ich habe keine Lebensfreude mehr. Als meine innere Wölfin müsstest du das eigentlich wissen. Ich weiss es auch. Ich habe dasselbe durchgemacht wie du. Ich habe die gleichen Beleidigungen und Drohungen gehört. Ich habe denselben Schmerz gespürt als unsere Eltern ermordet wurden. Aber dennoch liebe ich es zu Leben.

Ich liebe das Leben. Nicht weil es einfach ist, sondern weil es so viele schöne Dinge gibt. So viele wundervolle Dinge. Und genau das macht das Leben aus. Und irgendeinmal wird es besser werden. Und wenn nicht, ist es auch nicht weiter tragisch. Vielleicht sterben wir bei dem Versuch, Kyle aufzuhalten. Aber wir haben wenigstens nicht kampflos aufgegeben! Meine Tränen tropfen auf den mit rötlichen Blättern übersäten Waldboden. Was Fog gesagt hast ist wahr. Es ist so verdammt wahr. Aber dennoch kann ich niemandem ausser unserem Bruder vertrauen. Das verlangt auch niemand von dir. Nun gut. Ich werde versuchen ihn aufzuhalten. Gute Entscheidung. Ta? Ja? Hör auf zu heulen.

Danke auch! Ein kleines Lächeln huscht über meine Lippen. Langsam stehe ich wieder auf und wische mir mit dem Ärmel über mein Gesicht, um meine Tränen abzuwischen. Dann gehe ich mit schnellen Schritten zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Denn heute bin ich zu müde, um noch irgendetwas zu versuchen. Nach kurzer Zeit kann ich auch endlich mein Haus sehen. Ich lausche noch einmal kurz und prüfe die Luft, ob irgendjemand in der Nähe ist. Doch ich kann nichts riechen oder hören. Also hole ich den Haustürschlüssel unter dem grossen Blumentopf hervor und richte mich dann wieder auf.

Jede Faser meines Körpers tut weh, obwohl ich doch eigentlich nichts anderes getan habe, als mich zu konzentrieren. Also wenn das mich so schwächt, kann ich mich ja gleich begraben gehen. Das konzentrieren hat dich nicht geschwächt. Es war unser Streit und dein Gefühlsausbruch. Das kann mich also so schwächen, dass ich kaum mehr stehen kann? Ja. Das scheint eine Schwachstelle von uns zu sein. Denn die Natur versucht immer im Gleichgewicht zu bleiben. Wenn jemand viele Talente hat, hat er auch viele Schwächen. Wenn das so ist. Aber so herausragende Fähigkeiten haben wir nun auch wieder nicht, dass uns ein Gefühlsausbruch gleich ans Ende bringt.

Das wissen wir ja noch nicht. Aber wie du siehst, haben wir doch viele Talente. Ja, und genauso viele Nachteile. Wir sind schwächer und kleiner als normale Werwölfe, schon vergessen? Ausserdem kann ein kleiner Gefühlsausbruch uns gleich extrem schwächen. Aber was schwächt uns eigentlich? Positive Gefühle auch? Ich denke, uns schwächt, wenn wir unsere Gefühle zu offen darlegen. Denn solche Gedanken haben uns nie geschadet. Wahrscheinlich ist es so. Können wir endlich reingehen? Oh. Stimmt ja, wir stehen noch immer vor der Haustür. Schnell schliesse ich die Tür auf und trete ein. Ich zögere kurz, nachdem ich die Tür geschlossen habe. Sollte ich abschliessen?

Mach mal. Sicher ist sicher. Vor allem wenn wir so geschwächt sind. Da hast du Recht. Ich schliesse die Tür ab und lege den Schlüssel an seinen Platz zurück. Dann ziehe mir meine Schuhe aus und richte mich auf. Ich knirsche kurz mit den Zähnen, um den Schmerz etwas besser ertragen zu können. Mit schweren Schritten gehe ich ins Wohnzimmer, denn ich traue es mir im Moment nicht zu, die Treppe hochzugehen. Völlig erschöpft lasse ich mich auf das Sofa nieder. Schlaf gut Ta. Du auch Nightfog. Nenn mich nicht so! Nenn mich nicht Ta. Doch! Das besprechen wir ein anderes Mal. Gute Nacht. Gute Nacht.

Ascans Pov.

Ich bin noch nicht lange im Wald, und schon hat mich Silver daran erinnert, dass wir heute Geburtstag haben und wir vielleicht unsere Mate finden könnten. Bei diesem Gedanken huscht mir ein Grinsen über die Lippen. Wie es sich wohl anfühlt, jemanden zu lieben? Ich habe noch nie geliebt. Ich habe noch nie diese anscheinend so tollen Gefühle verspürt. Natürlich liebe ich meine Familie, aber anders. Doch nun sollte es bald so weit sein, dass ich endlich jemanden lieben würde, hoffe ich jedenfalls. Mein Vater hat mir erzählt, dass er in meinem Alter genauso war wie ich. Impulsiv und aggressiv. Doch als er seine Mate gefunden hatte, wurde er verantwortungsbewusster, vorausschauender und gütiger. Ob es bei mir auch so sein wird?

The Night WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt