Nachdem ich auch das Bild auf den Nachtisch gestellt habe, drehe ich mich um und laufe nach unten. Auf dem Sofa sitzt mein Bruder, zusammen mit seinem Laptop. Ich räuspere mich kurz, da er mich nicht bemerkt hatte. Er blickt auf und lächelt mich an. ,,Wirst du jetzt gleich nach ihr suchen?", frage ich ihn. Er nickt und antwortet mit: ,,Ich habe nur noch auf dich gewartet. Du kannst dann in der Zwischenzeit ja das Dorf erkunden." Das kann aber auch nur er glauben. Ich verdrehe nur die Augen. ,,Ich werde aus der Ferne zuschauen. Ihr werdet mich nicht mal bemerken."
Er quittiert meinen Plan mit einem genervten Seufzen, dann legt er den Laptop beiseite und stemmt sich hoch. Nun gehen wir in den schmalen Flur, um unsere Schuhe anzuziehen. Anschliessend verlassen wir das Haus und er schliesst ab. Ich nehme fast nie den Schlüssel, da ich etwas chaotisch veranlagt bin. Etwas? Ich glaube, chaotischer als wir zu sein ist schwierig. Das stimmt auch wieder. Dylan setzt sich in Bewegung und geht los. Ich warte noch kurz. Denn auch wenn wir uns als Cousin und Cousine tarnen, sollten wir uns nicht allzu oft zusammen sehen lassen. Es würde sonst doch etwas zu auffällig werden.
Ich atme kurz ein und überprüfe die Luft. Ich kann meinen Bruder deutlich riechen. Er tarnt sich nicht mehr, wie abgemacht. Doch mich kann man nicht riechen. Zusätzlich setze ich mir noch eine Brille auf, die eigentlich relativ stark korrigiert. Doch als Werwolf beeinträchtigt das weder meine Sicht, noch die Gesundheit meiner Augen. Werwölfe werden eigentlich nicht krank, heilen extrem schnell und haben nie eine Sehschwäche. Ausser das Auge ist komplett weg. Allerdings ist diese Vorstellung etwas ekelhaft. Also ich finde die Vorstellung, wie einem das Auge rausfällt und das Blut hervorquillt, sehr eklig. Stimmt auch wieder. Allerdings muss man es sich ja auch nicht gleich so vorstellen. Ich schon.
Ich versichere mich noch einmal, dass ich keine wölfischen Geruchsspuren hinterlasse und laufe los. Nach der jahrelangen Übung bringe ich es sogar zustande, dass ich ein wenig nach Mensch rieche. Allerdings ist es extrem anstrengend. Das stimmt. Aber was sollen wir sonst tun? Lieber so, als das wir entdeckt werden. Ich will gar nicht wissen, was sie dann mit uns machen... Ich auch nicht. Wenn wir gerade von unseren Fähigkeiten sprechen, wir hatten schon lange keine Visionen mehr. Stimmt, aber das ist gut so. Ja, definitiv. Diese Visionen sind immer extrem anstrengend und schmerzhaft. Umso klarer und schärfer das Bild der Vision, umso schmerzhafter ist es.
Allerdings ist die letzte bereits ein Jahr her. Sie war verschwommen. Doch ich weiss noch immer, was ich erkennen konnte. Es war ein See. Davor stand ein Wolf. Doch er war schattenhaft, aber ich weiss genau, dass er in meine Richtung geblickt hatte. Ich weiss noch immer nicht, wer er oder sie ist. Und ich weiss nicht, ob ich es herausfinden möchte. Doch, willst du. Nein! Doch. Na gut, ich will es wissen. Zufrieden? Ja. Aber wir sollten langsam losgehen, denn unser Bruder ist seit neustem schneller als eine Schnecke! Ouh, stimmt ja, den gibt's ja auch noch!
Du hast nicht ernsthaft vergessen, dass wir einen Bruder haben? Nein. Ich habe nur vergessen, warum wir eigentlich draussen herumstehen. Schnell setze ich mich in Bewegung und folge der Geruchsspur von Dylan. Nach einigen Minuten kann ich ihn wieder sehen. Er läuft geradewegs zu einem kleinen Café. Er geht hinein und ich laufe schnell hinterher. Während ich zu der Kasse gehe und mich anstelle, um mir einen Erdbeershake zu bestellen, dreht sich Dylan wie ein Verrückter im Kreis und prüft eilig die Luft. Ich verkneife mir ein Grinsen. Können wir mitmachen? Äh, was?! Können wir uns auch so schnell im Kreis drehen, das ist lustig!
Nein! Bist du völlig durch? Wir wollen keine Aufmerksamkeit und auch nicht so dämlich aussehen, wie es mein Bruder gerade tut. Also ich schon. Klappe jetzt. Wir machen nicht mit. Man! Spielverderberin! Zum Glück weiss niemand, dass er mein Bruder ist. Nun scheint er fündig geworden zu sein und läuft zielsicher auf eine Blondine zu. Ich werfe einen kurzen Blick auf meine Warteschlange. Jemand ist noch vor mir, also genügend Zeit, um zu sehen, wie mein Bruder seiner Mate begegnet. Unauffällig blicke ich wieder zu Dylan. Ich höre ihn leise knurren: ,,Meins!" Machen das alle Werwölfe so? Wenn ja, ist das ziemlich verstörend.
Allerdings können auch nur Werwölfe sein Knurren gehört haben, da er es so leise getan hat. Seine Mate, übrigens ist sie eine Werwölfin, fängt an sich umzudrehen, als mich plötzlich eine hohe Stimme anspricht: ,,Hallo?! Du bist dran!" Verwirrt blicke ich zu der Person, die mich angesprochen hat. Ein braunhaariges, zierliches Mädchen blickt mich zickig an. Du bist mit bestellen dran. Ach so. Ich setze ein gefälschtes Lächeln auf und sage: ,,Einen Erdbeershake bitte." Das Mädchen blickt immer noch genervt, doch sie nickt nur und gibt mir ein Zeichen, dass ich kurz warten soll. Ich beginne wieder unauffällig zu meinem Bruder zu starren. Er und die junge, blonde Frau umarmen sich gerade fest.
Fast alle Leute im Café blicken zu ihnen. Warum ist ihnen das nicht peinlich? Aww, wie süss! Ich verstehe dich nicht Fog. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, lassen sie sich los. Verliebt blicken sie sich in die Augen. Bei Mates ist nichts komisches, man verliebt sich eigentlich schon in den Mate, wenn man einander nur gerochen hat. Wenn man einen Menschen als Mate hat, dauert das etwas länger, aber spätestens nach ein paar Monaten ist es dann auch um sie geschehen. Ich freue mich schon so auf unseren Mate. Wie er wohl sein wird? Vielleicht lebt er auch in der Nähe! Fog, wenn wir unseren Mate finden, bringen wir ihn nur in Gefahr.
Oh. Also nicht freuen? Nein, nicht freuen. Schade. Falls wir ihn denn finden, müssen wir so tun, als wären wir ein Mensch. Und dann müssen wir warten, bis er entweder aufgibt oder wir uns von ihm lossagen. Das wäre wahrscheinlich wirklich das Beste. Es ist das Beste. Hoffentlich ist er nicht besitzergreifend oder mächtig. Und bitte, lass ihn nicht einer von denen sein, die ihre Mate, sobald sie sie gefunden haben, direkt beissen. Denn dann würde ich nie mehr von ihm loskommen. Ich beobachte meinen Bruder, wie er und seine Mate sich leise unterhalten. Seine Mate sieht wie fast alle Werwölfe sehr gut aus.
Doch nun fällt mir etwas auf, das die beiden nicht mehr ganz so wie ein Klischeepärchen aussehen. Dylans Mate ist nämlich gut fünf Zentimeter grösser als mein Bruder. Er ist nicht ganz eins achtzig gross, also ist er, im Gegensatz zu mir, in der normalen Werwolfgrösse. Sie sind trotzdem niedlich! Ich bin zwar nicht so zum alles süss finden veranlagt wie du, aber ja, das stimmt. Doch plötzlich werde ich wieder aus meinen Gedanken gerissen: ,,Hallo?! Sie! Ihr Shake!" Verwundert blicke ich auf. Ach ja, der Shake. Mit einem zuckersüssen Lächeln bezahle ich ihn, nehme ihn in die Hand und setze mich an einen Tisch. Ich beginne ihn zu schlürfen und beginne mich per Mind-Link mit meinem Bruder zu unterhalten. *Und? Wie heisst sie?*, frage ich ihn.
*Sie heisst Jalina. Jalina Bell. Sie ist so toll!*, schwärmt er. Ach du heilige Mondgöttin! Mein Bruder benimmt sich ja wie ein Besoffener. Dylan, der sonst immer so lustig ist und blöde Sprüche klopft, wird noch zum besoffenen Romantiker. Das kann ja lustig werden. Ich will auch endlich meinen Mate! Du lebst noch? Schade. Und ausserdem weisst du, dass das nicht geht. Aber... Nichts aber. Ich habe meinen Shake halb leer geschlürft, als mein Bruder plötzlich zu knurren anfängt. Ich folge seinem Blick und sehe einen Jungen, der sich an eine Wand lehnt. Er scheint etwa in meinem Alter zu sein, doch er wirkt alles andere als sympathisch.
Er wirkt kalt, aggressiv, stur und misstrauisch. Ausserdem ist er ein Werwolf. Normal gross, aber er wirkt gefährlich, sehr gefährlich. Und im Moment mustert er Dylan und seine Mate mit sehr viel Misstrauen und wirkt aggressiv. Auf einmal stösst sich der Junge von der Wand ab und geht langsam auf die beiden zu. Es scheint so, als wolle er meinen Bruder verletzen. Das wagt er nicht! Madame, wir schreiten ein. Schnapp dir den Shake und Attacke! Ich verstehe sofort was Fog meint, nehme meinen Shake und gehe geradewegs auf den Fremden zu.
Er ist schon fast bei den Beiden angekommen und ich rieche die Angst der Mate meines Bruders. Ich gebe meinem Bruder Bescheid, dass er sich bereitmachen soll, um abzuhauen. Schnell laufe ich ihn den Fremden hinein und schütte ihm ausversehen den Shake über sein schwarzes T-Shirt...
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The Night Wolf
Manusia SerigalaTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...