Schweigend und mit gesenktem Kopf stehe ich etwas abseits der anderen. Es herrscht Stille, die nur ab und zu durch kleine Schluchzer unterbrochen wurde, seit Charly, Tisana und George je eine eigene Verabschiedung von Ascan gesprochen hatte. Ascan liegt nun in seinem Sarg unter dem schwarzen, steinernen Grabstein. Nun ist nicht nur seine Seele fort, sondern auch sein Körper. Eine einzelne Träne fliesst meine Wange hinab, die ich bisher zu unterdrücken versuchte. Doch wie so oft in meinem Leben scheitert auch dieses Vorhaben. Eigentlich wollte ich erst weinen, wenn ich alleine bin, doch länger kann ich es wohl nicht zurückhalten. Auf die Träne folgt eine weitere, und auf diese wiederum eine neue.
Nur noch heute, dann nie mehr. Bis zu meinem Lebensende werde ich nicht mehr weinen. Ascan würde es nicht wollen. Langsam gehen die ersten des Rudels, es ist aber auch kein Wunder. Es ist bereits eher Morgen als Mitternacht. Dylan ist nicht hier, er war nur ganz kurz während der Beerdigung da, schliesslich gibt es Verletzte. Ausser Ascan hat der Kampf zum Glück keine weiteren Opfer auf unserer Seite gefordert. Das andere Rudel floh, so schnell die Pfoten sie trugen. Kyles Leichnam, es schaudert mich allein schon der Gedanke an ihn, wurde auf dem Platz des Kampfes vergraben. Wahrscheinlich als Mahnmal oder so etwas in der Art.
Doch so nett solche Erinnerungen für die Nachwelt auch sein mögen, es gab immer einen Grund, dass es diese gibt. Und meist ist dieser Grund grausam. So schrecklich, dass es die, die es miterleben mussten, es für nötig hielten, die nachfolgenden Generationen davor zu warnen, damit so etwas derartiges nicht wieder geschehen kann. Und dennoch passieren solche Dinge immer wieder. Kriege, Kämpfe, Morde, Hass, Eifersucht und Streit. Anscheinend sind Menschen und menschenähnliche Wesen einfach dazu verdammt, so schlecht zu sein. Es war so, ist so und wird auch immer so bleiben, auch wenn ich es gerne anders hätte. Meine Rudelgefährten laufen an mir vorbei und immer wieder bleiben einige stehen und verkünden mir ihr Beileid und das sie mir eine gute Nacht wünschen würden.
Ich schenke ihnen nur ein kurzes Lächeln und wünsche ihnen ebenfalls eine erholsame Nacht, und nach einer Weile stehe ich allein am Rand der kleinen, moosbewachsenen Lichtung. Dabei ist eigentlich schon morgen. Sei bitte einfach ruhig. Ich habe doch bis jetzt erst das gesagt! Fog, bitte. Ist ja schon gut ich wollte doch nur... Was wolltest du Fog? Mir auf die Nerven gehen? Nein, ich wollte dich nur etwas aufmuntern Talya. Und nun hör auf mit dem Gedanken, dass die ganze Welt gegen dich sei. Natürlich ist es schlimm für dich, aber es ist genauso schlimm für mich, meine Liebe.
Und hast du schon einmal an seine Schwester, seine Eltern und seine engen Freunde gedacht? Hast du auch nur einen Gedanken daran verschwendet, seit er begraben wurde? Nein. Fog, das macht es nicht besser. Nein. Aber es wird auch nicht besser, wenn du vor dich hin jammerst. Wir sind Alpha und Luna zugleich, wir haben eine Aufgabe. Auch wenn wir vielleicht noch nicht geschworen haben, aber das wird bald kommen. Talya. Wir haben eine Aufgabe, für die wir bestimmt sind. Wir sind nicht dazu bestimmt, Luna an der Seite Ascans zu werden, das weisst du genauso gut wie ich es tue. Es ist sein Schicksal und unser Schicksal.
Ich weiss Fog. Wir wissen es wohl beide schon länger, als wir auch nur erahnen können. Wahrscheinlich schon seit unserer Geburt. Womöglich. Nun gut meine Liebe, lass uns Abschied nehmen. Ich stimme ihr nur stumm zu und setze mich in Bewegung. Wie ein kleiner, schmaler Pfad führt das Moos mich zu seinem Grab. Links und rechts sind dutzende, wenn nicht sogar hunderte Kerzen und Blumen. Die Kerzen leuchten mir den Weg zu dem grossen schwarzen, dennoch filigranen Grabstein. Erst jetzt, als ich nur noch wenige Meter von ihm entfernt bin, fällt mir auf, wie er eigentlich aussieht. Der Stein selbst ist durchzogen mit vielen feinen, hellen Linien.
Als ich diese nun näher betrachte, fällt mir auf, dass sie silberblau sind. Silberblau, wie seine Augen es waren. Unter dem bisher dumpfen Schmerz, der noch halbwegs aushaltbar war, mischt sich nun ein heftiger, stechender. Ich keuche leise auf und lasse mich auf den Boden fallen und presse meine Augenlider aufeinander. Stehen wäre wohl nicht mehr möglich gewesen unter diesen Schmerzen, die wahrscheinlich nur ein Mate fühlen konnte, der sein Gegenstück für immer verloren hatte. Noch vor wenigen Tagen hätte ich niemals auch nur für möglich gehalten, dass Schmerz so zerreissend ist. Selbst ein langsamer, körperlich extrem schmerzhafter Tod wäre mir lieber, als dieser.
Jeder Mensch würde mich wohl für verrückt erklären, schliesslich kenne ich ihn erst seit kurzer Zeit. Es schmerzt noch mehr, da ich dieses kennen nun in kannte ändern muss. Auch Menschen können Liebeskummer empfinden, doch das ist nicht mal ansatzweise dasselbe, auch wenn es für solche, die es nicht verstehen, wohl die beste Beschreibung ist. Man war an ihn gebunden, eine Einheit, dazu imstande, die Gefühle des anderen selbst zu fühlen. Und da, wo Ascans Platz in meinem Herzen war, ist nur noch eine Leere. Eine Leere, die aus nichts besteht und auch niemals wieder gefüllt werden kann. Womöglich wird dieser Schmerz erst vergehen, wenn ich Ascan in den Tod nachfolge.
Doch nun verdränge ich diese Gedanken. Konzentriere mich auf das hier und jetzt. Einmal tief ein, dann wieder ausatmen, dann öffne ich meine Augen wieder, setze mich auf und betrachte das Grab vor mir. Relativ weit oben ist in silberblauer, beinahe unmenschlich schöner Schrift sein Name eingraviert. Ascan Black. Ich verbiete es mir, mich erneut den Schmerzen hinzugeben und einfach an Ort und Stelle zu sterben. Einatmen, ausatmen. Ich richte meinen Blick auf die Gravierung unterhalb seines Namens. In derselben Schrift wie auch oben steht dort geschrieben: Möge die Mondgöttin über ihn wachen. Darunter ist eine Szenerie in den Stein gemeisselt. Ein Wolf, der auf einem hervorstehenden Felsen steht und den Mond über ihm anheult.
Das Gemeisselte sieht so realistisch und fein aus, dass ich beinahe das Heulen des Wolfes zu hören glaube und ihn auch zu erkennen. Er sieht Ascans Wolfsgestalt mehr als nur ähnlich. Kurz versinke ich im Anblick der Szenerie, doch dann fällt mein Blick auf das Foto, das inmitten von unzähligen Blumen auf der frischen Erde liegt. Es ist sein Gesicht zu sehen, und es endet bei seinen Schultern. Seine dunklen Haare fallen ihm teilweise in die Stirn, seine hellen Augen leuchten mit der Sonne, die ebenfalls im Bild zu sehen ist, um die Wette. Seine Augen wirken im Vergleich zur Sonne jedoch wie zwei Monde. Er lächelt auf dem Bild, strahlt regelrecht. Bei diesem Anblick schleicht sich ein wehmütiges Lächeln auf meine Lippen.
Er war ein guter Alpha, auch wenn er es nur kurz war. Ebenso war er ein liebender Bruder, Sohn und Cousin. Und nicht zuletzt war er der beste Mate, den ich hätte haben können. Ich wünsche mir nur, ich hätte das früher eingesehen, ihn früher getroffen. Auch wenn er zu Beginn alles andere als nett war, er hatte dennoch immer ein gutes Herz. Ich erinnere mich an jeden Moment mit ihm, an jede seiner Berührungen. An jede Nanosekunde, in der er mich mit seinen unglaublichen, silbernen Augen angesehen hatte. An jedes seiner Gefühle, die ich spüren konnte. Und an seine angenehme, tiefe Stimme, die ich wohl niemals vergessen werde.
Leise, mit rauer Stimme spreche ich die Worte, die ich als letztes zu ihm sagte: ,,Ich könnte dich niemals vergessen. Ich liebe dich, Ascan. Mehr als alles andere." Mit diesen Worten stehe ich auf, drehe mich um und gehe. Gerade, als ich die Lichtung verlassen wollte, drehe ich mich noch ein letztes Mal um. Betrachte die Kerzen, die unzähligen Blumen, der dunkle Grabstein mit seinem Namen darauf und der Szenerie darauf. Und zuletzt sein Bild. Dann drehe ich mich um und setze meinen Weg fort. Doch ehe ich die Lichtung ganz verlassen habe, meine ich noch leise die Worte, wie die eines Echos zu hören: ,,Ich liebe dich auch."

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The Night Wolf
WerewolfTalya (16) ist anders als andere. Sie ist eine Werwölfin. Doch sie gehört keinem Rudel an. Sie versteckt, zusammen mit ihrem Bruder, ihre Identität als Werwolf vor anderen ihrer Art. Doch als sie umziehen, trifft sie auf ihren Mate und alles ändert...