Werden oder bereits sein [KAPITEL 34]

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Mit geröteten Wangen zog sich Jon einen imaginären Hut vom Kopf, ehe er ihn sich wieder aufsetzt. Das Lächeln wich wieder aus unseren Gesichtern. Unangenehme Stille hatte sich erneut wie eine schützende Decke über die komplette Ebene gelegt. Verlegen kratzte sich Jon am Nacken, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und wich meinem Blick aus. Im Gegensatz zu ihm stand ich still da, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen starrte ich einfach in sein Gesicht, welches wieder emotionslos gegen den Boden gerichtet war. Erneut verspürte ich das Bedürfnis ihm die Schuld abzunehmen, einen Mann, von dessen Taten ich nichts wusste. Einem Mann, von dessen Leben ich keine Ahnung hatte. Eine weiße Weste besaß er gewiss nicht. Das tat hier niemand. Also warum vertraute ich ihm dann bereits schon? Etwas strahlte er aus, etwas vertrautes, gegen das ich nicht ankämpfen konnte. Etwas, das mich in seinen Bann zog. Ich versuchte diese Gedanken abzuschütteln, doch sie blieben haften, egal wie stark ich mich gegen sie wehrte.

"Du", das Wort hatte meinen Mund verlassen, ehe ich daran gedacht hatte etwas zu sagen, es war wie aus einem Impuls heraus. Verwirrt sah Jon, dessen voller Name Jonas war, nun zu mir, eine Augenbraue in die Höhe gezogen. Erneut, ohne es zu wollen, begann ich zu reden: "Du. Sie können mich duzen." Die Miene des Blonden blieb noch eine Weile unverändert, ehe sie sich aufhellte und Erkenntnis in seinen Augen zu sehen war. Er nickte, wieder ein Lächeln auf den Lippen.
"Dann können Sie- du! Kannst du dies ebenfalls tun", trotz des Lächelns blieb seine Stimme recht kühl, so als hätte er gerade realisiert, dass er nicht sehr professionell mit mir umging. Verbeugungen und Hüte ziehen war etwas, dass man bei Hydra eigentlich nicht tat. Ob man dies überhaupt noch machte sei mal dahin gestellt. Dafür habe ich schon zu lange nicht mehr normal gelebt.

"Ich ... gehe dann mal wieder", unsicher sah er sich im Gang um, so als befürchtete er, dass sein Vorgesetzter auf einmal auftauchen würde. Sein Blick huschte nochmals zu mir, ehe er sich aus seiner Starre löste und Richtung Aufzug verschwand. Einige Sekunden blieb ich noch wie versteinert neben der offenen Tür stehen, bevor ich einen Schritt zurücktrat und diese schloss. Meine Hoffnung, dass die Sorgen nun von mir wie Blätter im Herbst fallen würden, jetzt wo ich alleine war, erfüllte sich zu meinen Ungunsten aber nicht. Es schien sogar noch schlimmer geworden zu sein. Die Leere drohte mich zu erdrücken, als ich mit schleppenden Schritten auf das Bett zusteuerte, auf welches ich mich erleichtert sinken ließ. Mein Blick wanderte zur fröhlich tickenden Uhr auf den kleinen Tisch neben mir. Es war noch immer früher Vormittag. Ich wandte mich wieder von dem Ungetüm ab und versuchte stattdessen mit zitternden Händen meine Schuhe von meinen Füßen zu bekommen. Einen frustrierten Schrei von mir gebend gab ich auf, als ich es nach einigen Minuten immer noch nicht geschafft hatte. Mich rückwärts auf mein Bett fallen lassend, vergrub ich meine Finger in meinen Haaren. Zitternder Atem kroch über meine Lippen, als ich erschöpft meine Augen schloss. Ich wollte nie wieder in diese Kantine gehen. Lieber verhungerte ich, als mich erneut den Männern zu stellen. Lieber starb ich hier allein. Lieber gab ich auf.

Leise Tränen hatten ihren Weg über meine Wangen gefunden, welche ich allerdings sofort wieder mit dem Ärmel wegwischte. Mit leerem Blick starrte ich an die Decke, ehe ich mich auf richtete und mich zu beruhigen begann. Tränen würden meine Probleme und Sorgen auch nicht lösen können. Sie wären nur verschwendete Energie. Und von der hatte ich im Moment sowieso viel zu wenig.

Mein verschwommener Blick wanderte mit einem Mal ganz allein zur braunen Winterjacke, welche noch immer auf der schmalen Bank neben dem Spind lag. Eine seltsame Kälte kroch meinen Rücken hinauf und schnürte mir die Kehle zu. Ohne Grund, ohne zu wissen warum stand ich auf einmal vom harten Bett auf. Mit schweren Schritten ging ich auf die Bank zu und ergriff den Stoff der Jacke, sobald er in Reichweite war. In dem Moment, indem ich diesen berührte zuckte ich allerdings zurück. Es war wie ein elektrischer Schock. Meine Finger kribbelten unangenehm und die Haare auf meinen Armen hatten sich aufgestellt. Zurückweichend ließ ich von der Jacke ab und verschwand mit schnellen Schritten auf der anderen Seite des Zimmers, als mich ein ungutes Gefühl beschlich. Vor der deckellosen Toilette hielt ich an, beugte mich über diese und würgte, doch es wollte nichts meinen Magen verlassen, der sich schmerzhaft verkrampfte, ebenso wie der Rest meines Körpers. Eine ganze Weile blieb ich noch mit gebeugtem Kopf vor der Schüssel sitzen. Solange, bis sich mein Atem wieder etwas beruhigt hatte und ich nicht mehr das Gefühl hatte mich gleich übergeben zu müssen, oder zusammenzubrechen. Erst dann stand ich mit zitternden Knien wieder vom Boden auf und taumelte einige Schritte weiter zum Waschbecken. Dort öffnete ich den Wasserhahn, ließ das Wasser in meine Hände, die ich zu einer Schale geformt hatte, laufen und spritzte es mir schließlich ins Gesicht. Anschließend sah ich langsam auf, starrte mein Spiegelbild mit glühenden Augen an. Meine Haut schien noch blasser als sonst zu sein und mein Gesichts sah aus, als wäre es in sich eingefallen. Ob ich mir dies aber nur einbildete, oder es real war wusste ich nicht. Meine Hände umgriffen zitternden den Rand des Beckens, boten mir Halt. Nicht von meinem Spiegelbild ablassen können starrte ich mir weiterhin in die müden Seen.

Hör auf zu fühlen!

Ich zuckte zusammen und wich vom Spiegel zurück, als mich mein anderes ich mit glühenden Augen anschrie. Perplex blinzelte ich mehrmals und schüttelte meinen Kopf. Verunsichert hob ich ihn ein wenig und sah wieder zum Spiegel, doch mein Abbild blickte nur scheu wie ein Reh zurück. Wie erstarrt blieb ich noch eine Weile so stehen, starrte mich selbst an, ehe ich vom Spiegel abließ und meinen Kopf in den Händen vergrub.
"Ich werde verrückt", flüsterte ich, als ich kopfschüttelnd zurück zur anderen Zimmerhälfte ging. Die noch immer auf der Bank liegende Jacke ignorierte ich dabei vollkommen, als ich an ihr vorbeischritt und mich anschließend aufs Bett setzte. Ich warf meinen Schuhen einen kurzen skeptischen Blick zu, bevor ich sie hastig, trotz noch immer zitternder Finger, auszog. Erleichtert atmete ich aus und ließ mich auf die harte Unterlage sinken. Meine Hände gefaltet auf meinem Bauch liegend starrte ich an die Decke. Ich strich eine Strähne meiner schwarzen Haare aus meinem Gesicht, ehe ich die Hand wieder mit der anderen vereinte. Ob ich nun verrückt war oder wurde, mein Spiegelbild hatte Recht. Ich musste aufhören mich von meinen Gefühlen leiten zu lassen.
Jetzt noch mehr als früher.




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Wuh-hu!
Bereits zweitausend Aufrufe! :D
Danke dafür!

Jetzt fühl ich mich schlecht, dass das Kapitel so kurz ist ... entschuldigt bitte ':/

So! Dann bis in zwei Wochen!
Magicrow

How to become a Winter SoldierWo Geschichten leben. Entdecke jetzt