Eine Frage der eigenen Meinung [KAPITEL 36]

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In den nächsten Tagen geschah nicht sonderlich viel. Jonas kam jeden Tag zweimal, manchmal sogar dreimal, dies aber eher selten, und brachte mir etwas Warmes zu essen. Ich kam mir vor wie im Paradies! Es gab kaum mehr Brei oder Suppe, höchstens einmal morgens oder abends und sonst gab es, im Vergleich zu dem was ich davor immer essen musste, frischere und vor allem abwechslungsreichere Gerichte. Man musste zugeben: Ihre Soldaten ließ Hydra ganz sicher nicht verhungern. Stattdessen starben sie während ihren Missionen oder aufgrund von Experimenten.

Meist blieb der Blonde noch während ich aß, leistete mir Gesellschaft, redete und erzählte. Dadurch konnte ich mir ein immer besser werdendes Bild von ihm zusammensetzen, welches größtenteils allerdings noch Lücken aufwies. Er schien recht sympathisch zu sein. Soweit das hier möglich war. Etwas, was ihn auf alle Fälle vom Rest unterschied. Freundlichkeit galt hier nämlich eigentlich als Schwäche, daher verwunderte es mich, dass er dies so offen gegenüber mir zeigte. War es ihm überhaupt bewusst?
Etwas zurückhaltend schien er trotzdem zu sein, wahrscheinlich aber um mich nicht zu verschrecken, so wie es seine Kollegen getan haben. Auch wenn er im Bereich "über seine Lebensgeschichte berichten" das komplette Gegenteil war. Ich wusste womöglich mehr über ihn, als es gut wäre. Wobei ich nicht einschätzen konnte, ob er mich nicht belog und es eine Art Test war. Sollte ich Hydra davon berichten, wie leicht man etwas aus Jonas herausbekam? Falls es keine Probe war würde ich ihn damit aber womöglich in den Tod stürzten. Und das wollte ich nicht verantwortlichen müssen.

Er blödelte nie herum und riss keine Witze. Was eigentlich verständlich war, doch auch hier schien er aus der großen Masse herauszustechen. Seine Kollegen hatten nicht damit gespart, als ich das erste und bis jetzt letzte Mal in der Kantine war. Dass ich mich nicht für immer in meinem Zimmer verkriechen konnte war mir dabei mehr als klar. Aber ich konnte es so lange wie es funktionieren würde wenigstens versuchen.
Jon, jedenfalls, war ernst, versuchte immer verantwortungsbewusst zu wirken, auch vor mir. Das taten viele der übrigen Soldaten zwar auch, doch diese waren untereinander viel lockerer als Jon es war. Dadurch kam ich mir manchmal vor wie ein kleines Kind, auf das man aufpassen und den langweiligen Erwachsenen spielen musste.
Zu mir war er es bis jetzt zwar noch nicht, doch so wie er über die anderen sprach schien er auch recht abweisend sein zu können. Und natürlich kalt. Doch jeder, der bei Hydra landete war kalt in seinem Inneren oder wurde es sehr bald. Also nichts Besonderes oder Auffälliges.

Wenn ich dann aufgegessen hatte, nahm er das Tablett sofort mit und verschwand meistens wieder bis zur nächsten Mahlzeit. Er aß bei mir nie etwas, was wohl bedeuten musste, dass er dies immer kurz davor in der Kantine machte. Auch dies war verständlich. Dort saßen schließlich immer noch seine Kollegen und Freunde. Ich war nur seine Aufgabe, der er viel zu viel anvertraute. Irgendwann würden ihm diese Eigenschaften zum Verhängnis werden.

Sobald Jonas aus der Tür verschwunden war machte ich mich immer gleich daran zu trainieren. Da ich nie zum Trainingsraum gebracht wurde ging ich davon aus, dass es vorgesehen war, dass ich in meinem Zimmer blieb und übte. Dies tat ich solange bis Jon mit der nächsten Mahlzeit kam, was meist um die fünf bis sechs Stunden waren. Nach dem Essen ging ich fast immer duschen und setzte mich anschließend auf das Bett, um etwas zu meditieren. Ein Ausgleich für das harte Training, das ich mir selbst auferlegt habe. Vielleicht mutete ich mir da auch zu viel zu ...
Irgendwann, ich wusste nicht genau wann, legte ich mich schließlich schlafen und entfloh der Realität. Doch seit geraumer Zeit plagten mich seltsame Träume und Bilder, sobald ich die Augen schloss. Sehr selten blieb mir in Erinnerung, um was es sich gehandelt hat. Und eigentlich würde es mich auch nicht interessieren, wenn da nicht immer dieses seltsame Gefühl, dieser Druck auf meiner Brust wäre, sobald ich die Augen wieder aufschlug. Der Druck verfolgte mich seitdem ich von meiner letzten Mission zurückgekehrt bin. Irgendetwas musste in mir eine Erinnerung mit diesem Gefühl heraufbeschworen haben. Irgendetwas, auf das ich meinen Finger nicht legen konnte. Diese wirren Träume waren dann bestimmt auch Erinnerungsfetzen. Ich musste unbedingt herausfinden, was es war ...

How to become a Winter SoldierWo Geschichten leben. Entdecke jetzt