15

3.9K 200 6
                                    




Ich griff schon nach meinem Handy, bevor der Wecker auch nur die Möglichkeit hatte, zu klingeln. Seit fast zwei Stunden lag ich wach, versuchte nur halbherzig wieder einzuschlafen und sah alle paar Minuten auf mein Telefon, in der Hoffnung, es wäre endlich Zeit aufzustehen.

Nach dem, was Samstag Nachmittag im Späti passiert war, kreisten meine Gedanken ausschließlich um Mari, diesen Kuss, und das, was danach passiert war und ich konnte kaum schlafen, denn auch wenn ich meine Augen schloss, sah ich ihr Gesicht vor mir. Was meine Gedanken erneut zum Kreisen brachte.

Wir hatten noch eine Weile so dagestanden, ihre Stirn an meiner, mit geschlossenen Augen und einfach die Nähe der anderen genossen.

Schließlich hatte sie tief geseufzt, sich von mir gelöst und ich konnte die Wärme, die Verwirrung, die Zärtlichkeit, die Wut in ihrem Gesicht sehen. So viele Emotionen, die sie selbst wohl kaum einzuordnen wusste. Ihre Worte schwirrten in meinem Kopf herum. „Das hätte ich nicht tun dürfen, Quinn." Und entgegen all meiner Erwartungen hatte sie ihre Lippen noch einmal leicht auf meinen Mundwinkel gelegt, bevor sie sich umdrehte und dieses mal hielt ich sie nicht auf. In der Tür angekommen hatte sie gezögert, noch einen Blick über die Schulter zu mir zurück geworden und als sie den Laden verließ, vernahm ich noch ganz leise ein „Gib mir etwas Zeit".

Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich fühlen sollte, stand noch eine Weile inmitten des Ladens herum, bevor ich mich wieder auf meinen Stuhl hinter der Theke setzte. Mein Kopf war leer. Ich fühlte irgendwie... einfach nichts. Wusste nicht, ob ich vor Glück schweben sollte, wegen des Kusses oder sauer auf Mari sein sollte, wegen ihres Abgangs. Ich war restlos überfordert. Irgendwann Abends, nachdem ich tausende von Löchern in die Luft gestarrt haben musste, hatte ich den Laden abgeschlossen, war hochgegangen und hatte mich ins Bett gelegt. Und da waren alle Gefühle über mich hereingebrochen. Es war ein einziges Auf und Ab in mir und mein Kopf war nicht mehr in der Lage, sich mit irgendetwas zu beschäftigen, was nicht mit Mari Roth zu tun hatte.

Montag in der Schule hatte ich sie nicht gesehen, fragte mich, ob sie mir dieses Mal tatsächlich aus dem Weg ging.

Heute war endlich Dienstag und ich war unausgeschlafen, sauer auf Mari, weil ich mich mit allem alleingelassen fühlte, verliebt in Mari wie noch nie, weil ich noch immer diese unglaublichen Lippen auf meinen spürte, besorgt um Mari, weil sie noch viel verwirrter sein musste, als ich es war. Immerhin setzte sie nicht nur ihre Beziehung aufs Spiel, sondern auch ihren Job, möglicherweise ihre Zukunft. Für mich war das Ganze ein Gefühlschaos, doch für sie war es verboten. Schlicht und ergreifend verboten. Und vor allen Dingen war ich aufgeregt, nervös, hibbelig, meine Finger trommelten vermutlich sogar in den wenigen Stunden Schlaf die ich bekam auf meiner Matratze herum. Denn gleich würden wir uns sehen, ob sie wollte oder nicht und ich hatte keine Vorstellung davon, wie ich mich dabei fühlen würde. Wie sie sich fühlen würde. Was passieren würde. Ob ich in der Lage dazu wäre, diese ganzen Gefühle die in mir brodelten zu verstecken, wenn ich ihr in die honigfarbenen Augen schauen würde.

Seufzend stand ich auf, nahm eine kühle Dusche und trank viel, viel Kaffee, bevor ich mich auf den Weg in die Schule machte.

Vor dem Kunstraum angekommen wurde ich auch schon von Lukas und Anthea in eine enge Gruppenumarmung gezogen.
„Was ist los, Quinn?", fragte Anthea leise, ihr Mund nah an meinem Ohr.

„Das ist der zweite Tag in Folge, dass du hier so durcheinander hereinschneist", murmelte Lukas.

„Ich bin einfach müde", gab ich zurück, was ja nicht einmal gelogen war, denn ich wollte nicht über die Sache mit Mari reden und hatte mich auch in den letzten Tagen nicht dazu in der Lage gefühlt, meinen Freunden überhaupt von unserem Treffen im Späti zu erzählen.

„Ist es wegen Frau Roth?", flüsterte Anthea, um niemanden der anderen Schüler um uns herum etwas hören zu lassen.

„Nein", gab ich schwach zurück.

„Denkst du immer noch über die Sache mit ihrer Freundin nach?", hakte Lukas besorgt nach. Eine meiner Freundinnen musste ihn darüber aufgeklärt haben, vermutlich Luise. Sowohl den Samstag, als auch den Sonntag Abend hatten die beiden in Luises Zimmer verbracht und ich hatte beide kaum zu Gesicht bekommen. Was mir ganz recht gewesen war bei meiner Gemütslage.

Ich seufzte. „Nein, alles okay."

Anthea und Lukas sahen mich kritisch an und es war nicht zu übersehen, dass beide genau wussten, dass es alles andere als okay war, aber sie wussten auch, dass ich schon reden würde, wenn ich bereit dazu wäre, als ließen sie mich in Ruhe.

Genau passend zum Ende unseres Gesprächs sah ich Mari den Gang entlang kommen. Sofort fing mein kompletter Körper mal wieder an, verrückt zu spielen. Kribbeln, Hitze, Zittern, Finger, die nach etwas zum Trommeln suchten, das volle Programm.

Schnell schaute ich auf den Boden, wollte ihrem Blick nicht begegnen. Dazu fühlte ich mich tatsächlich noch nicht bereit, auch wenn ich gleichzeitig nichts sehnlicher wollte, als wieder ihren sanften Blick und das Sommersprossenmeer in ihrem Gesicht zu sehen. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte ich verdammte Angst vor dem, was ich in ihrem Blick sehen könnte, wenn wir uns ansahen. Angst vor Ablehnung, Angst vor Wut. Und am schlimmsten: Angst vor Reue. Ich dachte, wenn ich ihr ansehen würde, dass sie das, was zwischen uns gewesen war, bereute, würde es mir das Herz zerreißen. Das könnte ich nicht ertragen, dafür bedeutete es mir zu viel.

Ich ging hinter Lukas und Anthea in den inzwischen aufgeschlossenen Raum und setzte mich auf meinen Platz, ohne auch nur einmal den Blick zu heben.

Erst als alle saßen, die Tür wieder geschlossen war und Mari vorne vor der Tafel stand und ich ihr müdes „Guten Morgen" hörte, wagte ich es aufzusehen. Und auch wenn ich nicht das sah, wovor ich Angst hatte, schmerzte es mich bei ihrem Anblick. Sie wirkte zerstreut, die fuchsroten Haare unordentlich hochgesteckt, lose Haarsträhnen fielen ihr in die Stirn. Augenringe zierten ihr schönes Gesicht und auf ihren Lippen lag nicht einmal der Anflug des Schmunzelns, welches sonst ihr ständiger Begleiter war. Es versetzte mir einen Stich, wenn ich darüber nachdachte, sie könnte sich schlecht fühlen und ich könnte schuld daran sein. Es war offensichtlich, dass sie in den letzten Nächten nicht viel mehr Schlaf bekommen haben konnte, als ich. Zerbrach sie sich genau wie ich den Kopf über das, was da zwischen uns war? Stritt sie sich noch immer wegen mir mit ihrer Freundin? Und auch der Gedanke an ihre Freundin schmerzte, aber in diesem Moment wurde mir bewusst, wie wichtig es mir eigentlich war, dass es ihr gut ging. Und dass ich bereit war, meine Gefühle für sie zurückzustellen, wenn es das war, was sie wollte.

Der Unterricht verlief ruhiger als sonst, jeder arbeitete vor sich hin und Mari saß vorne an ihrem Pult, blätterte gedankenverloren in irgendwelchen Unterlagen herum und schaute ab und zu kurz durch den Raum, wobei sie aber niemanden wirklich anzusehen schien. Wie ich vorhin, schien sie meinen Blick meiden zu wollen. Nur ein einziges Mal an diesem Tag, nur für einen kurzen Moment, trafen sich unsere Augen und das einzige was ich in ihnen sah war Hilflosigkeit.

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt