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Grinsend sah ich Karsten dabei zu, wie er nach der Ketchupflasche griff und deren Inhalt auf seiner Pizza verteilte.

Nachdem ich mit Mari geredet und ihr die Lage erklärt hatte, ich mir keine Sorgen mehr machen musste, sie zu verlieren, schwebte ich wieder auf Wolke sieben. Dadurch, dass dieses furchtbare Gedankenkarussell um Mari, Elina, die Angst vor dem Auffliegen, vorerst aufgehört hatte sich zu drehen, hatten andere Gedanken sich wieder in den Vordergrund gedrängt. Und zu diesen Gedanken hatte Karsten gehört, weshalb ich ihn angerufen und ein Treffen vorgeschlagen hatte. Ich hatte beinahe etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil ich mich anders als eigentlich geplant so lange nicht bei ihm gemeldet hatte - auch wenn mir bewusst war, dass ein schlechtes Gewissen  meinerseits bei unserer Vorgeschichte mehr als unbegründet war.

Also saßen wir nun wieder hier bei Pepe, ein Teller mit Peperonipizza vor Karsten, ein Teller mit Käsepizza vor mir, jede Menge Ketchup, und tatsächlich freute ich mich zum ersten Mal wirklich darüber, ihn zu sehen. Der Ketchup auf der Pizza und das nervöse Fingertrommeln waren zugegebenermaßen keine großen Sachen, aber jede noch so kleine Ähnlichkeit hatte dazu geführt, dass ich Karsten nach und nach mit anderen Augen sah. Ich glaubte ihm, wenn er sagte, es tue ihm leid und er wolle mich nun kennenlernen. „Besser spät als nie." Und ich wollte ihn kennenlernen. Ich wollte ihm eine echte Chance geben, nach achtzehn Jahren zwar nicht der Vater zu sein, den ich nie hatte, aber vielleicht eine Art Freund.

„Erzähl mir mehr über die Zeit nach dem Gefängnis", bat ich ihn zwischen zwei Bissen Pizza. Die Scheu davor, ihm falsche Fragen zu stellen, oder vielmehr die Scheu davor, überhaupt Fragen zu stellen, war fast gänzlich verschwunden. Ich hatte ein Recht auf Antworten, wenn ihm das alles hier wirklich ernst war.

Ein paar Sekunden vergingen, in denen Karsten schweigend auf die Colaflasche schaute, die er zwischen seinen Händen drehte. Er trank einen Schluck, stellte die Flasche wieder ab. Wischte das Fett der Pizza an seinen Händen an seiner Serviette ab. Es fiel ihm sichtlich schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen. Oder diese Worte mit mir zu teilen. Schließlich räusperte er sich leise, hob den Blick und sah mir direkt in die Augen. Ich fragte mich kurz, ob auch er wahrnahm, wie sehr sie den seinen ähnelten, in der Form, in der Farbe. Ob er sich in den Konturen meines Gesichts wiedererkannte. Dann fing er endlich an zu erzählen.

„Nachdem ich meine Zeit abgesessen hatte, saß ich quasi auf der Straße. Vor dem Gefängnis habe ich mit deiner Mutter zusammengewohnt, aber bei ihr konnte ich mich nach allem was passiert war und dem Versprechen, das ich ihr gegeben habe, natürlich nicht blicken lassen. Meine Eltern waren schon immer ziemlich konservativ und wollten mit Dingen wie Drogen nichts am Hut haben. Damit will ich nicht sagen, dass ich ihre Entscheidung, mich nicht im Gefängnis zu besuchen und auch danach nichts mehr mit mir zu tun haben zu wollen, nicht nachvollziehen könnte. Natürlich verstehe ich sie. Jedenfalls schlugen sie mir die Tür vor der Nase zu, als ich nach fünf Jahren bei ihnen auftauchte. Ich schämte mich, bei ihnen zu klingeln und sie um ein Dach über dem Kopf zu bitten, aber ich sah keine andere Option. Ich hatte kein Geld, keinen Job, nichts mehr. Ich weiß, das alles hatte ich selbst zu verantworten. Aber als ich da stand und mir klar wurde, dass niemand etwas mit einem Mann zu tun haben wollte, der beinahe ein Mädchen getötet hätte- "

„Nein, das hast du nicht. Du hast ihr nur das gebracht, was sie haben wollte", fiel ich ihm ins Wort und war kurz überrascht von mir selbst, denn ich hatte nicht geplant, diese Worte auszusprechen. Natürlich war mir klar, dass Karsten einen Großteil der Verantwortung zu tragen hatte für das, was da passiert war. Aber irgendwie tat es mir plötzlich leid, wie alle sich von ihm abgewandt und niemand auch nur einen Gedanken daran verschwendet hatte, dass nicht nur er allein an der Sache beteiligt gewesen war. Immerhin wollte dieses Mädchen die Drogen, sie selbst hatte sie gekauft und sich dazu entschieden, sie zu konsumieren. Natürlich, sie war jung und im Grunde genommen war es nicht fair, so zu denken. Aber dann war da noch Karstens Freund, der sich zumindest in meinen Augen viel größere Schuldzuweisungen machen sollte, als Karsten selbst. Karsten hatte die Drogen zwar überbracht, aber sein Freund war derjenige gewesen, von dem diese ganze Drogensache ausgegangen war.

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt