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Verwirrt, glücklich und doch aufgelöst erreichte ich die Wohnungstür. Erst beim zweiten Versuch schaffte ich es, mit dem Schlüssel das Schloss zu treffen, meine Hände zitterten noch immer.

Sobald die Tür sich öffnete, wurde ich von mehreren Armen in eine enge Gruppenumarmung gezogen.

„Wie ist es gelaufen?"

„Geht es dir gut?"

Anthea und Luise redeten gleichzeitig auf mich ein und es dauerte einen Moment, bis sich aus dem Stimmgewirr die Worte der beiden in meinem Kopf zu verständlichen Fragen bildeten. Bevor ich überhaupt die Möglichkeit hatte zu antworten, wurde ich ins Wohnzimmer gedrängt, Anthea an meiner linken Seite, Luise an meiner rechten, und auf die Couch gedrückt.

Ich spürte die besorgten Blicke auf mir, Luise streichelte mir sanft übers Bein, Anthea legte ihren Arm um mich und zog mich an ihre Schulter.

„Was - ", begann Anthea ihre nächste Frage, aber ich unterbrach sie.

„Ich hab ihr von Elinas Drohung erzählt", fing ich an, woraufhin die Besorgnis der beiden augenblicklich in Ungläubigkeit umschlug.

„Du hast was?", kam es ungewöhnlich laut aus Luises Mund, während Anthea ruckartig ihren Arm wegzog.

„Gott, Quinn", rief diese, „was um Himmels Willen hast du dir denn dabei gedacht?"

„Gar nichts", antwortete ich schnell, bevor weitere vorwurfsvolle Fragen auf mich niederprasseln konnten, „ich habe das ja auch nicht so geplant. Aber ich konnte nicht anders. Als sie da vor mir stand und so fertig ausgesehen hat und mich gefragt hat, was los ist-   ''

Ungeduldig fiel Anthea mir ins Wort. „Wie hat Mari reagiert?"

Luise beugte sich über mich rüber und gab Anthea mit vorwurfsvollem Blick einen Klaps auf den Oberschenkel. „Jesus, Anthea, wie wäre es denn, wenn du Quinn endlich erzählen lassen würdest?"

Ich warf Luise einen dankbaren Blick zu, während Anthea sich erhob um stöhnend auf dem Sessel gegenüber von uns Platz zu nehmen. Sie wippte abwartend mit dem überschlagenen Bein auf und ab und starrte mich an, die Anspannung war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Trotz Antheas Ungeduld und ihrem Dazwischenquatschen war ich unglaublich froh darüber, die beiden hier zu haben und ihnen direkt erzählen zu können, was passiert war, denn ich hatte inzwischen gemerkt, dass es mir half, mit ihnen über die Dinge zu sprechen, die mich beschäftigten. Auch wenn es eine Zeit lang gedauert hatte. Es war beruhigend zu wissen, dass beide für mich da waren und meine Gedanken, die sich seit ich Mari kannte oftmals scheinbar unlösbar verknoteten, mit mir gemeinsam entwirrten. Lange genug hatte ich sie ausgeschlossen und alleine versucht mit den Dingen fertig zu werden, aber daraus hatte ich gelernt, spätestens seit dem Tag, an dem Luise mich aus meinen Todesträumen und zurück ins Leben geholt hatte.

„Also", setzte ich erneut zum Erzählen an, „das einzige, was ich sagte, war, dass Elina uns verraten würde und dass wir die Sache beenden müssten. Dann bin ich gegangen, ich konnte es nicht ertragen, Mari weinen zu sehen. Mari konnte das so aber anscheinend nicht stehen lassen, also ist sie mir gefolgt und hat mich auf halbem Weg abgefangen. Sie meinte, es zu beenden wäre keine Option und wollte wissen, was genau passiert ist. Ich habe ihr erzählt, wie Elina beim Maskenball aufgetaucht ist, von den Bildern und den Nachrichtenverläufen und Mari war natürlich total geschockt und sauer. Sie sagte, sie hätte gewusst, dass Elina eifersüchtig ist und sie zurück haben will, aber dass sie solche Geschütze auffährt, damit hat sie nicht gerechnet. Ich habe mir schon gedacht, dass sie die Sache mit Elina klären wollen würde, aber Elinas Drohung hat sich für mich ziemlich ernst angehört, also konnte ich Mari irgendwie davon überzeugen, es zumindest fürs erste auf sich beruhen zu lassen." Ich holte tief Luft, während meines Berichts hatte ich kaum geatmet, so schnell und aufgeregt hatte ich geredet. Luise und Anthea sahen mich beide mit offenen Mündern an, beide hatten wohl damit gerechnet, dass ich heute Abend niedergeschlagen von dem Gespräch mit Mari zurückkommen und mich bei ihnen ausweinen oder direkt in mein Zimmer verziehen würde. Nichtmal ich konnte die unerwartete Wendung schon richtig realisieren und das, obwohl ich live dabei gewesen war.

„Und was ist jetzt mit Mari und dir?", fragte Anthea, der meine Atempause offenbar schon zu lang andauerte.

Das erste Mal seit Tagen schlich sich das verliebte Lächeln, das sich vor dem Zusammentreffen mit Elina immer wenn ich auch nur an Mari dachte unweigerlich auf meinem Gesicht gebildet hatte und von dem ich geglaubt hatte, ich hätte es zusammen mit ihr verloren, zurück auf meine Lippen.

„Mari sagte, dieses Mal würde Elina ihren Willen nicht bekommen. Ihr Job sei ihr wichtig, aber das wäre ich auch und wenn sich wegen dieser Sache unsere Wege trennen würden, wäre sie auch mit Job nicht glücklich."





Meine Sorgen, Mari im Unterricht gegenüber sitzen zu müssen, Wut und Verzweiflung statt dieses unglaublichen Schmunzelns auf ihrem Gesicht zu sehen, während wir versuchten, dem Blick der jeweils anderen nicht zu begegnen, blieben unbegründet. Nach wie vor sah sie während der Stunde immer mal wieder zu mir rüber und auch wenn es meinen unwissenden Mitschülern verborgen blieb, konnte ich genau erkennen, wie ihr Blick weicher und wärmer wurde, wenn wir uns ansahen. Ich lauschte ihrer rauen, beruhigenden Stimme und genoss diese unglaubliche Ausstrahlung, mit der sie es schaffte, jeden Einzelnen in diesem Raum in ihren Bann zu ziehen und dazu bewegte, ihr aufmerksam zuzuhören, uns genau dann zum Schweigen und genau dann zum Lachen zu bringen, wann sie es wollte. Ich kostete voll und ganz die Momente aus, in denen sie durch die Reihen lief, während wir an unseren Aufgaben arbeiteten, und meinen Rücken leicht mit ihrem Oberkörper berührte, als sie tat, als würde sie sich meine Arbeit anschauen, denn ich wusste genau, dass sie mir eigentlich nur nah sein wollte. Immer wieder rief ich mir in Erinnerung, wie sie mir hinterhergelaufen war, statt ein Ende hinzunehmen, wie sie mich festgehalten und geküsst hatte und welche ungeahnte Gefühlswelle durch meinen Körper gerauscht war, als sie mir gesagt hatte, dass sie mich liebt. Langsam kam in meinem Kopf an, dass sie wirklich, wirklich mit mir zusammen sein wollte, ganz egal, wie risikoreich es war und dass sie es nicht zulassen würde, dass es wegen Elina endete, und zusammen mit dieser Erkenntnis machte sich sehr viel mehr Liebe in mir breit, als ich je für möglich gehalten hätte.

Als es zum Stundenende klingelte, ließ ich mir besonders viel Zeit dabei, meine Sachen zusammen zu packen und trödelte noch immer unter Maris wissendem Blick vor mich hin, während die meisten anderen die Klasse bereits verlassen hatten. Anthea und Lukas grinsten uns zu, bevor sie die Tür hinter sich ins Schloss zogen und Mari und mich damit allein ließen.

Mari stand auf und kam hinter ihrem Pult hervor auf mich zu, mit genau dem Schmunzeln auf den Lippen, das mir immer und immer wieder eine Gänsehaut bescherte. Mit viel zu viel Abstand blieb sie vor mir stehen und musterte mich nachdenklich. Ich musste mich beherrschen, nicht einen Schritt auf sie zuzumachen und meine Lippen auf ihrer Haut zu platzierten, denn obwohl wir uns erst gestern geküsst hatten, vermisste ich schon wieder ihre Nähe und das Wissen, dass wir uns zumindest in den nächsten Monaten mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr privat sehen würden, verstärkte das Gefühl der Sehnsucht um ein Vielfaches. Und auch hier konnte ich mich diesen Gefühlen nicht hingeben, denn seit Anthea während unseres Kusses in den Kunstraum geplatzt war und vor allem seit Elinas Drohungen, war mir mehr als bewusst, wie riskant es wäre, Mari innerhalb der Schule näher zu kommen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es über Monate schaffen sollte, Mari nicht küssen zu können, sie nicht berühren zu dürfen. Es fiel mir ja nach wenigen Stunden mit ihr in einem Raum schon unglaublich schwer.

Auch Mari hatte sich Gedanken darüber gemacht. „In Relation zu der Zeit, die wir nach deinem Abschluss zusammen haben werden, sind die paar Monate wirklich nicht viel", sagte sie und ließ damit eine Welle der Enttäuschung durch meinen Körper schwappen, weil ihr das Abstandhalten anscheinend so viel leichter fiel als mir, doch dann streckte sie ihren Arm aus und ich sah einen kleinen, silbernen Schlüssel in ihrer Handfläche liegen.

„Im zweiten Stock, hinter den Toiletten, ist ein kleiner Raum, in dem Bücher und Unterrichtsmaterial aufbewahrt werden, die seit wahrscheinlich zehn Jahren nicht genutzt wurden. Was bedeutet, dass dieser Raum so gut wie nie betreten wird. Das hier ist der Schlüssel dafür. Ich weiß, es ist nicht gerade der romantischste Ort für ein Date, aber etwas besseres ist mir bislang noch nicht eingefallen."

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als die Bedeutung ihrer Worte in meinem Kopf ankam. Ich würde sie küssen können, ich würde sie anfassen können. Wir würden uns sehen, allein, auch wenn es nur wenige Minuten am Tag sein würden. Ich griff nach dem Schlüssel und ein Schauer breitete sich ausgehend von meinen Fingern in meinem Körper aus, als unsere Hände sich streiften.

Maris Lippen öffneten sich einen Spalt und entblößten ihre Zahnlücke und ich wurde von kribbeliger Vorfreude gepackt, als ich das Verlangen in ihrem Blick sah.

„Was machst du heute nach der letzten Stunde?"

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt