35

2.7K 191 21
                                    




Maris Körper versteifte sich, als sie meine Worte hörte. „Elina wird uns verraten."

Die Worte hatten meinen Mund verlassen, ohne dass ich darüber nachgedacht hatte, was sie anrichten könnten. Ich kannte Elinas Mittel und Möglichkeiten nicht, aber mir war bewusst, dass sie es unter keinen Umständen tolerieren würde, dass ich Mari von ihren Drohungen erzählte. Sie erwartete von mir, dass ich mich von Mari fern hielt, aber meinen Plan, Elina glaubwürdig von einer Trennung zu überzeugen, hatte ich soeben zunichte gemacht. Ich hätte Mari vor Elina schützen sollen, indem ich es einfach unter einem Vorwand beendete, stattdessen tat ich genau das, womit ich Mari womöglich am meisten schaden könnte. Ich kam mir so unglaublich dumm vor.

Ich versuchte, meinen Egoismus runterzuschlucken und nahm alle Kraft zusammen, um mich von Maris Körper zu lösen. Vielleicht bestand der Hauch einer Chance, dass Elina diese Umarmung als eine letzte Abschiedsumarmung interpretierte, sollte sie einem von uns tatsächlich in den Park gefolgt sein und uns gesehen haben. Das war es, was ich jetzt tun musste, um die Kurve zu kriegen, das Ganze irgendwie zu retten: mich verabschieden.

Ich sah mich um, versuchte, Elina irgendwo hier im Park auszumachen. Hinter einem Baum oder unter einer Kapuze und einer Sonnenbrille versteckt auf einer Bank, vielleicht hatte sie auch jemand anderes geschickt, um uns beobachten zu lassen. Aber außer uns war niemand hier. Trotzdem wusste ich nicht, ob ich der Sache trauen konnte und wollte auf Nummer Sicher gehen. Ich hatte mich schon viel zu sehr hinreißen lassen, viel zu viel riskiert.

Als meine Augen Maris Gesicht trafen, zog mein Magen sich zusammen. Sie sah geschockt aus, noch geschockter als in diesem Moment im Kunstraum, in dem wir dachten, erwischt worden zu sein. Sie war noch blasser als vorhin, alles Blut schien aus ihrem Gesicht gewichen zu sein. Sie hatte noch immer nicht geantwortet, wahrscheinlich hatte es ihr die Sprache verschlagen. Ich wusste nicht, was sie gedacht hatte, wieso ich mich nicht bei ihr gemeldet und auf ihre Nachrichten reagiert hatte, aber Elina hatte sie offensichtlich nicht dahinter vermutet.

Was für ein Mensch war Elina, dass sie jahrelang mit Mari zusammen gewesen war und Mari, die mich innerhalb kürzester Zeit vollends durchschaut hatte, keine Ahnung davon hatte, zu was Elina fähig war? In meinen Augen hatte Elina ganz eindeutig mit psychischen Problemen zu kämpfen, aber war es möglich, dass die Trennung von Mari der Auslöser dafür war? Ich konnte nur schwer glauben, dass sie sich danach in einen Menschen verwandelt haben sollte, den Mari anscheinend nie auch nur ansatzweise in ihr gesehen hatte, aber genau so schwer fiel mir die Vorstellung, sie könnte ihre wahre Persönlichkeit all die Jahre vor Mari versteckt haben.

Ich musste es hinter mich bringen. Mir blieb keine andere Wahl mehr, ich würde nicht ewig hier stehen und Mari bloß ansehen können. Zum einen würde ich ich meine Sehnsucht nicht lange verdrängen können und auch Maris Gesichtsausdruck sorgte dafür, dass ich sie wieder an mich ziehen wollte, was nicht passieren durfte. Zum anderen würde es nicht einfacher werden, die Worte auszusprechen, die gesagt werden mussten.

Ich schluckte ein letztes Mal, schloss kurz die Augen, drehte die Worte in meinem Kopf hin und her. Nichts machte Sinn, nichts würde den Schmerz lindern. Was ich auch sagte, welche Worte ich auch aneinander reihte, wir beide würden am Ende dieses Gesprächs alleine und unglücklich nachhause gehen.

„Wir müssen aufhören damit." Es war nicht mehr als ein Flüstern und ich war mir nicht sicher, ob es die Worte oder meine Tränen waren, die diesen salzigen Geschmack auf meinen Lippen hinterließen.

Als ich sah, dass auch Maris Augen anfingen zu schwimmen und eine Träne sich langsam ihren Weg über ihre Wange bahnte, über die Sommersprossen, die durch ihre Blässe noch deutlicher zu sehen waren und die ich an glücklicheren Tagen jede einzeln zu küssen versucht hatte, wusste ich, ich musste gehen. Sofort. Ich könnte nicht länger die Tränen über ihr schönes Gesicht rinnen sehen, ohne sie in den Arm zu nehmen, zu trösten, ihr ins Ohr zu murmeln, dass ich nichts lieber wollte, als an ihrer Seite zu sein.

Aber das konnte ich nicht, das durfte ich nicht.

Also drehte ich mich von ihr weg, ignorierte den alles überdeckenden Wunsch, in ihrer Nähe zu bleiben, ignorierte das Ziehen in meiner Brust, bei dem Gedanken daran, dass das hier unsere letzte Begegnung außerhalb der Schule gewesen war, dass es das letzte Mal gewesen war, dass ich ihren weichen Körper an meinem und ihre Hände auf meinen Wangen gespürt hatte. Ich ging und ignorierte das schwache „Quinn" aus Maris Mund, ignorierte die Magensäure, die bei dem Klang meines Namens statt des sonst so wohligen Gefühls in mir aufstieg. Ich ging weiter und ignorierte den Drang, mich nach ihr umzudrehen, um zu schauen, ob sie noch immer da stand oder selbst schon gegangen war. Ich verließ den Park und ignorierte die Tränen, die in meinen Augen brannten und mir die Sicht nahmen.

Ich betete zum ersten Mal in meinem Leben, hoffte, dass Elina entweder tatsächlich nicht da gewesen war oder zumindest nichts davon mitbekommen hatte, dass ich Mari von ihr erzählt hatte.  Dass Mari meine wenigen Worte so ernst nahm, dass sie nicht zu Elina gehen und sie zur Rede stellen würde. Dass Elina einfach glauben würde, dass es wirklich vorbei war und ihr Wissen über unser verbotenes Verhältnis für sich behalten würde.

Ich bog um irgendeine Ecke, unschlüssig, wohin ich gehen sollte, denn ich wollte nicht nachhause gehen und mich wieder in meinem Bett verkriechen, verzweifelt und tagelang vor mich hin leidend. In dem Bett, in dem Mari und ich zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, und es war so viel mehr gewesen als das. Mit jeder einzelnen Berührung hatte ich mich in sie verliebt und auch wenn sie es nie ausgesprochen hatte, wusste ich doch, dass es ihr genau so ging. Mit jedem Kuss hatte sie ein Stück meines Herzens für sich gewonnen und mir ein Stück ihres Herzens geschenkt. Und jetzt war es vorbei. Es war nicht nur in meinem Kopf vorbei, es war ausgesprochen vorbei. Die Worte hatten unwiderruflich meinen Mund verlassen und ich würde in diesem Bett nie wieder mit Mari schlafen, Berührungen und Küsse austauschen und am Morgen neben ihr aufwachen, um das müde, liebevolle Lächeln auf ihren Lippen zu sehen, dass meinen ganzen Körper kribbeln ließ.

Eine Hand schloss sich um meinen Arm und riss mich damit aus meinen Gedanken, ließ mein Herz erschrocken aus dem Takt geraten. Ich wurde unsanft in einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern gezogen, so schnell, dass ich vor Schock und Tränen nicht sah, wer mich da gerade überfiel, aber in meinem Kopf blitzte ein Bild von Elinas wutverzerrtem Gesicht auf.

Bevor mein Blick sich wieder klären konnte, wurde ich mit vollem Körpereinsatz an die nächstgelegene Hauswand gepresst.

„Was-      '', setzte ich an, doch ich wurde unterbrochen von Lippen, die sich stürmisch an meine drängten.

Der Geruch von Orangen und Kokos drang in meine Nase und mein Herz machte erneut einen Satz, doch dieses Mal nicht aus Panik und es dauerte nicht den Bruchteil einer Sekunde, bis alle Sorgen und Befürchtungen um Elina und einen möglichen Verrat einfach ausgeknipst wurden und ich gänzlich die Kontrolle über meinen Körper verlor. Gott, wie sehr hatte ich diesen Mund vermisst. Das sanfte Streichen Maris Zunge über meine Unterlippe. Das elektrisierende Gefühl, das mich voll und ganz in Besitz nahm. Ich legte meine Hände in Maris Nacken, spürte ihr weiches Haar unter meinen Fingern und zog sie noch enger an mich. Sie drängte sich mir entgegen, wollte genau wie ich keinen Zentimeter Platz zwischen uns. Dieser Kuss war voller Verzweiflung, gemischt mit all der Unsicherheit und Sehnsucht, die sich angestaut hatte, Wut auf Elina, Angst vor dem, was passieren würde, Lust aufeinander, die trotz allem in uns aufflammte, sobald wir uns nah waren. Maris Zähne gruben sich in meine Lippe und ich stöhnte auf, vor Schmerz, vor Verlangen, und schmeckte das Salz unserer Tränen, die sich vermischten.

Irgendwann, nach Sekunden, Minuten, Stunden, mein Zeitgefühl hatte sich vollkommen verabschiedet, löste Mari sich von mir. Ich wollte noch nicht die Augen öffnen, hoffte noch darauf, dass sie mich erneut küssen würde, denn ich wollte einfach mit ihr hier stehen bleiben, zwischen den Häusern, und sie festhalten, bis die Erde aufhören würde sich zu drehen oder zumindest bis Elina kommen und uns finden würde.

Aber Mari küsste mich nicht erneut, also öffnete ich irgendwann doch die Augen und unsere Blicke trafen sich. Honigbraun, das mich eindringlich und ernst ansah, zwischen dunklen Wimpern und der tränenverschmierten Mascara hindurch.

„Quinn", flüsterte sie, leise und rau und dieses Mal machte sich wieder die altbekannte Gänsehaut auf meinem Körper breit. Sie nahm meine Hände, verschränkte unsere Finger miteinander, bevor sie weiterredete.

„Ich liebe dich. Und nein, wir werden nicht damit aufhören."

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt