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Ich zog meine Jacke enger um mich und lief schneller, als es anfing zu regnen. Es war kalt und dunkel, bis auf ein paar leuchtende Späti- und Kneipenschilder, die die Straße spärlich beleuchteten. Ich fühlte mich schwindelig, benommen, und ich sah auf den Boden, um nicht über einen Stein oder eine leere Bierflasche zu stolpern. Schwere Tropfen durchnässten langsam meine Haare, liefen mir über die Stirn und vermischten sich auf meiner ausgekühlten Haut mit heißen Tränen. Links abbiegen und dann noch drei Kreuzungen bis nachhause. Als ich um die Ecke bog, nahm ich aus dem Augenwinkel ein Plakat an der Hauswand wahr. Wie von unsichtbaren Fäden zurückgehalten blieb ich stehen, drehte meinen Kopf zu dem Plakat. Sah diese Lippen, die riesig darauf abgebildet waren, mohnrot und lächelnd und mit geraden, perlweißen Zähnen, perfekt aneinandergereiht, bis auf eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Mari. Ich rannte los, orientierungslos, ich rannte und rannte und rannte, um das in meinen Gedanken aufflackernde Gesicht zu vertreiben, bis meine Lungen zu bersten drohten und mich zum Stehenblieben zwangen. Mein Shirt klebte an mir, nass von Regen und Schweiß und ich rieb mir die Augen, drehte mich einmal um mich selbst, auf der Suche nach einem Straßenschild. Mühlenstraße. Ich ging ein paar Meter in die Richtung, von der ich vermutete, sie würde mich nachhause führen, aber ich war müde und irritiert und ich fror und da war dieser überdachte Hauseingang. Ich sank an der grünen Tür hinab, noch immer nach Luft ringend, und kramte mein Handy aus meiner Jeanstasche, um nachzuschauen, wie ich am schnellsten nachhause kommen würde. Mit klammen Fingern tippte ich auf dem Display herum, doch das blieb unverändert schwarz. Fuck. Durchatmen, Quinn, sagte ich mir, du bist sowieso schon komplett durchnässt, und wenn du krank wirst, was soll's? Dann bleibst du einfach noch ein paar Tage im Bett. Also legte ich den Kopf in den Nacken, atmete noch einmal tief durch, und stand auf. Ich warf einen Blick in die verschiedenen Richtungen und entschloss mich, es mit links zu probieren. Keine zweihundert Meter weiter sah ich in einer Nebenstraße das Plakat. Das Plakat mit diesen Lippen, diesen Zähnen. Ich verharrte, in meinem Kopf drehte sich alles. War es das selbe Plakat wie vorhin? Hingen hier mehrere davon? Ich versuchte mir die Gebäude in Erinnerung zu rufen, an denen ich vorbeigegangen war, die Läden, die Schilder, aber irgendwie war alles fremd und verschwommen und verwirrend. Nicht mehr wie ein paar Straßen von Zuhause entfernt, nicht mehr wie meine Heimatstadt. Mein Herzschlag beschleunigte sich, Schweißperlen bildeten sich trotz der Kälte auf meiner Oberlippe. Ich ging weiter, vorbei an dem Plakat, bog irgendwo ab, sah das Straßenschild. Mühlenstraße. Bog nach rechts. Der Hauseingang, die grüne Tür. Meine Schritte beschleunigten sich, zusammen mit meinem Atem. Panik machte sich in mir breit. Ich ging um die nächstbeste Ecke, schaute hoch und sah direkt vor mir das Plakat. Die Zähne. Die Lippen. Ich fing wieder an zu rennen. Das Straßenschild. Mühlenstraße. Fuck, was passierte hier? Der Hauseingang, die grüne Tür. Das Plakat. Das Straßenschild. Die grüne Tür. Plakat, Straßenschild, Grüne Tür. Plakatstraßenschildgrünetür. Regen, Tränen, Rennen. Schneller. Über die Straße. Ich sah dieses Licht, das wahnsinnig schnell auf mich zukam, hörte den Knall, hörte meinen eigenen Schrei und alles, was ich sah, war Honigbraun.


Ich schreckte hoch, schweißgebadet, zitternd, frierend. Mein Herz raste in einem unnatürlichen Rhythmus. Orientierungslos tastete ich die Wand neben meinem Bett nach dem Lichtschalter ab und atmete erleichtert aus, als ich ihn endlich fand und mein Zimmer erleuchtet wurde.

Ich ließ mich zurück in die Kissen sinken, versuchte, meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Nur ein Traum, Quinn, es war nur ein Traum.

Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung davon, welcher Wochentag gerade war.

Seit Mari geklingelt und ich mich anschließend in meinem abgedunkelten Zimmer verkrochen hatte, lag ich apathisch im Bett herum oder starb in den wenigen Stunden Schlaf, die ich bekam, auf jede erdenkliche Art und Weise in meinen Träumen.

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt