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Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zog ich dir Tür hinter mir zu und trat ein paar Schritte in die Dunkelheit.

Die Stille, die mich plötzlich umgab, trug nicht unbedingt dazu bei, meine Anspannung zu verringern. Ich hatte nie ein Problem damit gehabt, nachts alleine durch die Stadt zu laufen und ich war noch nie die Art von Mensch gewesen, die sich nach einem Horrorfilm nicht mehr traute, allein auf die Toilette zu gehen. Ich war nie die Kellertreppe hochgerannt, weil irgendeine leise Stimme in mir sagte, da unten könnte etwas Böses lauern und auch als Kind hatte ich nie das Bedürfnis gehabt, nachts ein Licht brennen zu lassen, weil sich in der Dunkelheit irgendetwas verstecken könnte, das vielleicht im Schlaf nach mir greifen würde. Aber jetzt, hier, an diesem Ort, an dem man nicht einmal ein Auto irgendwo in der Ferne hörte und der unbefestigte Weg nicht durch Straßenlaternen, sondern nur durch den milchigen Mondschein beleuchtet wurde, fühlte ich mich unwohl. Vielleicht waren die Gedanken an das, was in Horrorfilmen an solchen Orten passierte in Kombination mit den Geschichten, die wir uns eben erzählt hatten, Schuld daran. Vielleicht war es diese absolute Stille, die ich aus der Großstadt, in der ständig irgendwelche Hintergrundgeräusche herrschten, nicht gewöhnt war. Vielleicht spürte ich auf eine merkwürdige Art und Weise, dass irgendetwas nicht stimmte.

Ich schüttelte den Kopf und wischte diese Gedanken beiseite. Irrational, Quinn, sagte ich mir, diese Ängste sind vollkommen irrational. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste, dachte ich; wenn das hier gerade ein Film wäre, dann höchstens eine dieser romantischen Liebesschnulzen. Schließlich wusste ich, dass nicht wie in einem Horrorfilm irgendein Ungeheuer oder ein aus einer Irrenanstalt ausgebrochener geisteskranker Killer auf mich wartete, sondern Mari. Es gab keinen Grund für ein mulmiges Gefühl.

Ich zog meinen Schal enger um mich und ging weiter in Richtung des Wäldchens, an dem ich vorbeigehen sollte, um zu dem Ort zu kommen, den Mari mir zeigen wollte, und ignorierte die leise Stimme in mir, die sagte, da könnte etwas Böses lauern. Die Stimme, die mir sagte, ich sollte einfach wieder umdrehen und zu meinen Freunden gehen und Mari eine Nachricht schicken. „Tut mir leid, ich bin heute ein Angsthase. Zeig mir den Ort doch lieber morgen." Ich wusste, es wäre okay gewesen, Mari hätte mich vielleicht für einen Moment mit hochgezogenem Mundwinkel und einem belustigten Blick angeschaut und wir wären am nächsten Tag gemeinsam noch einmal hingegangen. Ich musste ihr nichts beweisen. Und eigentlich musste ich auch mir nichts beweisen. Aber da war dieser viel zu große Teil in mir, der mich auslachte und mir immer wieder „Irrational!" zurief und dieser noch viel größere Teil, der einfach neugierig war. Und das vorfreudige Kribbeln, das sich immer dann in mir breit machte, wenn ich wusste, ich würde Mari gleich sehen. Das Kribbeln, das nicht einmal von irrationalen, mulmigen Gefühlen und durcheinander rufenden Stimmen übertönt werden konnte.

Am Wäldchen vorbei und dann an der Weggabelung rechts. Ich lief fünfzig Meter, hundert, schluckte immer wieder das ungute Gefühl herunter, das immer wieder hochkam, sich immer wieder mit seinem bitteren Geschmack in meinem Mund ausbreitete. Schalt mich selbst dafür, dass ich es nicht schaffte, meine Paranoia wenigstens für dieses Wochenende abzulegen, um diese besondere Zeit mit Mari genießen zu können.

Und dann, endlich, sah ich es und das Rauschen in meinem Kopf, bestehend aus Ängsten und „Irrational!"-Rufen löste sich in Nichts auf. Auch wenn ich Mari noch nicht sehen konnte, war ich mir sicher, dass das hier der Ort sein musste. Ich bog auf den schmalen Pfad ab, der vom Weg abzweigte, und stand nur wenige Schritte später vor der kleinen Mauer. Ich hatte nicht bemerkt, wie weit oben die Hütte und das Wäldchen gelegen waren. Erst jetzt realisierte ich, dass wir uns auf einem hohen Hügel befinden mussten, der an dieser Stelle steil, beinahe senkrecht, bergab ging. Von hier aus hatte man einen unglaublichen Blick auf das kleine Städtchen, das vor uns lag. Winzige Dächer von winzigen Fachwerkhäuschen, ein winziger Kirchturm, noch viel winzigere Straßenlaternen, die das Ganze in der Dunkelheit strahlen ließen. Es wirkte wie eine kleine, wunderschöne Spielzeugstadt, in der winzige Puppen in ihren winzigen Spielzeugbetten schliefen.
Kalte Hände, die sich von hinten über meine Augen legten und mir die Sicht nahmen, ließen mich zusammenzucken. Vielleicht aus Schreck, vielleicht in der Erwartung, gleich dicht an Maris Körper gezogen zu werden, machte mein Herz einen Satz.

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt