22

4K 215 5
                                    




Ich kam im zweiten Stock an und sah Mari bereits im Türrahmen stehen. Kribbeln breitete sich in mir aus und ich wurde schlagartig nervös. Ich war hier, in dem Haus, in dem Mari Roth wohnte und würde gleich alleine mit ihr in ihrer Wohnung sitzen. Sie würde mich ansehen und ich würde ihren Blick die ganze Zeit über auf mir spüren. Ja, wir waren zuvor schon sehr viel intimer miteinander gewesen, aber das hier war anders. Als das passiert war, war ich mir sicher bloß zu träumen, doch jetzt war ich hellwach und sie stand vor mir und ihr ernster Gesichtsausdruck wich einem kleinen Schmunzeln, als ich zögernd vor ihr stehen blieb, um sie zu mustern.

Sie trug ein kurzes, dunkelblaues Kleid, das ihre honigfarbenen Augen strahlen ließ. Ich war bemüht darum, nicht in ihren Ausschnitt zu gucken, der mehr Haut zeigte, als sonst, und scheiterte kläglich. Mein Mund wurde trocken, ich hatte Mühe, nicht meine Hand auszustrecken und sie einfach zu berühren, zu fühlen. Ihre Strickjacke über dem Kleid sah so weich und kuschlig aus und ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen würde, an sie geschmiegt auf dem Sofa zu liegen. 

Mari räusperte sich und riss mich damit aus meinen Gedanken. Meine Wangen liefen rot an, ich hatte bestimmt zwanzig Sekunden lang hier im Flur gestanden und sie ungeniert angestarrt. Und sie schien Gefallen daran zu haben, wie ihr Blick vermuten ließ.

„Kommst du endlich rein?", fragte sie, leise und rau, und ich brachte nicht mehr als ein Nicken zustande.

Sie ging nur einen kleinen Schritt zur Seite, weswegen unsere Arme sich streiften, als ich durch die Tür ging. Ich schluckte, spürte die Gänsehaut an der Stelle, an der wir uns berührten und nahm wahr, wie Mari hörbar die Luft einsog. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde stand sie plötzlich direkt vor mir, ohne dass ich mitbekommen hatte, dass wir oder eine von uns sich bewegt hatte, und ich spürte die geschlossene Tür ihrer Wohnung im Rücken. Unsere Oberkörper waren sich so nah, dass ich merkte, wie ihre Brust sich hob und senkte. Überall war ihr Geruch, intensiver als je zuvor, die ganze Wohnung schien nach Orangen und Kokos zu duften. Ihre Augen ruhten auf meinen Lippen und ihr für mich so wahnsinnig anziehender, mohnroter Mund öffnete sich einen Spalt. Alles um uns herum vibrierte, die Zeit stand still, die Zeit raste, es passierte nichts und alles gleichzeitig und ich wurde mitgerissen von einer Welle der Gefühle, als ich ihre weiche Hand in meinem Nacken spürte und ihre Lippen sich langsam zu meinem Ohr bewegten und ich ihren Atem auf meiner Haut fühlte und sie sagte: „Quinn, was mache ich hier bloß", bevor ihre Lippen sich so sanft und wild und vorsichtig und drängend auf meine legten.

Ich wollte sie enger an mich ziehen, jeden Zentimeter ihrer Haut auf jedem Zentimeter meiner Haut fühlen, aber sie ließ von mir ab und ging ein Stück zurück, ohne mich aus den Augen zu lassen und ich konnte im wahrsten Sinne des Wortes spüren, wie viel Energie dieser Schritt sie kostete. In ihren Augen spiegelte sich all das wider, was ich gerade fühlte, dieser Strudel aus Emotionen, das Verlangen, die Verwirrung, die Lust.

„Komm, wir wollten reden", sagte sie schließlich, und auch an ihrer Stimme, die noch eine Spur rauer war als sonst, konnte ich hören, dass sie, genau wie ich, eigentlich gerade ganz andere Dinge als Reden im Kopf hatte. Aber genau wie sie wusste ich, dass ein Gespräch schon mehr als überfällig war, also ließ ich mich von ihr in das kleine Wohnzimmer ziehen und setzte mich neben sie auf die weiche, beige Couch. Überall standen Pflanzen in bunten Töpfen und die untergehende Sonne tauchte das Zimmer in ein warmes Licht. Auf dem kleinen Holztisch vor uns und in mehreren Wandregalen lagen Zeitschriften und Bücher, ein paar Bilder zierten die Wände und ich fühlte mich unmittelbar wohl hier, was zusammen mit der liebevollen Begrüßung dafür sorgte, dass meine Nervosität sich legte. Alles deutete darauf hin, dass dieses Gespräch ein gutes Gespräch werden würde, und ich am Ende des Abends nicht mit einem gebrochenen Herzen Maris Wohnung verlassen würde.

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt