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Blind vor Tränen und Verzweiflung ließ ich mich von Elina in Richtung ihres Autos führen, ihre Hand hatte meinen Arm noch immer fest im Griff. Auch ohne diese schmerzhafte Umklammerung wäre ich ihr protestlos gefolgt, ich hatte wohl kaum noch eine andere Wahl. Ich fühlte mich, wie ein zum Tode Verurteilter, auf dem Weg zu seiner Hinrichtung. Wie sollte ich es erneut ertragen, Mari in Sorge zurückzulassen, Mari schon wieder sagen zu müssen, dass wir es beenden müssten, dieses Mal endgültig, und den damit einhergehenden Schmerz überleben? Wie sollte ich ohne sie weiterleben, wenn alles, was ich wollte, ein Leben an ihrer Seite war?

Immer wieder stolperte ich über den weichen, moosigen Boden, immer wieder pochte mein Arm vor Schmerz, wenn Elinas Finger sich fester um meinen Arm schlossen, um mich zum Weitergehen zu zwingen. Ich versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die es mir zusätzlich zur Dunkelheit erschwerten, Steinen und Ästen aus dem Weg zu gehen, doch immer, wenn meine Sicht sich für den Bruchteil einer Sekunde klärte, schossen neue Tränen in meine Augen und wieder war ich blind.

Der Weg kam mir vor wie eine Ewigkeit. Die Meter zogen sich wie Kaugummi und ich dachte, wir würden niemals ankommen, als ich ruckartig zum Anhalten gezwungen wurde. Irritiert drehte ich mich zu Elina, die plötzlich stehen geblieben war, obwohl ich selbst in der Ferne durch den Tränenschleier hindurch noch kein Auto erkennen konnte. Sie krallte sich regelrecht in meinen Arm und ich hob den anderen, um mir die Augen trocken zu wischen, damit ich endlich erkennen konnte, was los war. Das selbstgefällige Grinsen war verschwunden. Stattdessen machte sich ein erschrockener Ausdruck auf ihrem Gesicht breit, ihre Augen wurden größer und ihre Lippen begannen zu beben. Sie sah so aus, wie ich noch vor wenigen Momenten ausgesehen haben muss, als ich von ihr statt von Mari überrascht worden war. Ein Ausdruck, der Hoffnung in mir aufflammen ließ. Ich wandte mich von ihr ab und folgte ihrem starren Blick, blinzelte ein letztes Mal, um wieder klar und deutlich sehen zu können.

Karsten. Mein Herz machte einen Satz, als ich ihn auf uns zukommen sah.

„Lass sie los." Seine tiefe Stimme, ruhig und bestimmt.

„Was machst du hier?" Ihre Stimme, nicht mehr ruhig und bestimmt, sondern belegt und zitternd.

„Ich denke, das selbe könnte ich dich fragen. Und ich denke, du solltest hier verschwinden und meine Tochter in Ruhe lassen."

Elina, die mich noch immer festhielt, lachte auf. Ein schrilles, um Fassung ringendes Lachen. „Sonst was?" Jetzt war sie diejenige, die ihre Unsicherheit nicht mehr verbergen konnte. Sie versuchte, beherrscht und gelassen zu klingen, aber es misslang ihr ganz eindeutig. In mir mochte sie vielleicht das kleine, schwache Mädchen sehen, aber ihr Respekt vor dem Mann, der vor uns stand und sie um einen Kopf überragte, war unübersehbar. Mit seinem Auftauchen hier hatte sie nicht gerechnet - genau so wenig wie ich.

„Eigentlich möchte ich nur ungern zu denselben Mitteln greifen, wie du, aber du machst es mir nicht leicht, Elina", gab Karsten mit fester Stimme zurück und trat noch einen Schritt näher auf uns zu. Elina wich zurück, ließ jedoch noch nicht von meinem Arm ab.

„Lass sie los", sagte er, noch immer ruhig, wie beim ersten mal, doch sein Tonfall klang eine Spur bedrohlicher.

„Ich weiß nicht, von welchen Mitteln du sprichst", gab Elina zurück, die sich inzwischen so weit von ihrem Schreck erholt hatte, dass sie sich wieder etwas gefasster anhörte, doch ihr Griff lockerte sich.

Karsten seufzte auf. „Du hast eine Spy-App auf Maris Handy geladen, um ein- und ausgehende Nachrichten verfolgen zu können. Du hast sie geortet, um ihr hier her folgen zu können. Du hast ein bisschen gegoogelt, die richtigen Leute gefragt und herausgefunden, dass und warum ich im Gefängnis gesessen habe. Ich habe Kontakte, die mehr drauf haben als das. Kontakte, die in der Lage sind, tiefer in die Materie vorzudringen. Wirf ruhig einen Blick auf dein Handy, Elina. Schau, ob da noch Bilder sind, die deine Exfreundin belasten. Ich kann es dir sagen: da ist nichts mehr. Nicht auf deinem Telefon, nicht auf deinem Laptop, nirgends."
Er machte eine Pause, streckte seine Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger auf sie. Nur wenige Zentimeter trennten diesen von Elinas Brust. Ihr Gesicht wirkte wie versteinert.

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt