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Ich starrte den fremden Mann, der plötzlich im Kunstraum aufgetaucht war, an, unsicher, ob das hier gerade wirklich passierte. Zwischen den grauen Strähnen, die sein Haar durchzogen, erkannte ich ein dunkles Braun. Es war exakt das gleiche Braun, das ich bei jedem Blick in den Spiegel sah. Seine grünen Augen fixierten meine grünen Augen. Ich erkannte die Nase, den Mund, das Kinn. Anthea hatte recht, er sah wirklich aus wie ich. Oder besser gesagt, ich sah aus wie er. Ich sah aus wie eine jüngere, weibliche Version von ihm. Sein Alter konnte ich nur schwer einschätzen, Falten zeichneten sich auf seiner Stirn ab, seine Wangen waren eingefallen. Er sah fertig aus, verlebt, und trotzdem war die Ähnlichkeit zwischen uns nicht zu übersehen.

Zwischen meiner Mutter und mir gab es nie diese Ähnlichkeit, Sprüche wie „oh, deine Tochter sieht wirklich aus wie dir aus dem Gesicht geschnitten" oder „man sieht sofort, dass sie deine Tochter ist" bekam sie wohl nie zu hören. Sie war blond und klein, eher rundlich, während ich dunkel und groß war und essen konnte was ich wollte, ohne zuzunehmen. Trotzdem hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ich etwas vom Aussehen meines Vaters abbekommen hatte, ob man uns die Verwandtschaft ansehen würde. Meine Mutter hatte mir nie Fotos von ihm gezeigt und sowieso kaum über ihn geredet. Im Prinzip war das einzige, was ich wusste, dass er sie während der Schwangerschaft verlassen hatte, und ich konnte gut mit den wenigen Informationen leben. Ich kannte es schließlich nicht anders. Natürlich fragte ich mich ab und an, ob mein Leben mit einem Vater, der für mich da gewesen wäre, anders verlaufen wäre, aber irgendwie waren meine Mutter und ich uns immer genug gewesen.

Aber jetzt stand er hier vor mir und eine Welle von Emotionen brach über mich hinein, als er leise und fragend meinen Namen aussprach. „Quinn?"

Ich ballte meine Fäuste vor Wut, da stand plötzlich der Mann vor mir, der achtzehn Jahre meines Lebens nicht da gewesen war, der mir nie Gutenachtgeschichten erzählt, mich nie vor dem Einschlafen auf die Stirn geküsst hatte. Er hatte nicht meine Hand gehalten, wenn ich mit Angst vor einer Spritze beim Arzt gesessen hatte und nie eine meiner Wunden mit einem Pflaster versorgt. Er, der mich nie gefragt hatte, wie es mir ging, der nicht mit mir Eis essen oder in den Zoo gegangen war, der nicht mit mir gelacht hatte, auf dessen Schoß ich nie hatte sitzen dürfen, um mich auszuweinen. Der mich nicht kein einziges Mal in meinem Leben angerufen hatte, weder zu Geburtstagen, noch zu Weihnachten. Er hatte meine Mutter, er hatte mich allein gelassen.

Und jetzt stand er hier, einfach so, und wagte es, meinen Namen in den Mund zu nehmen. Mich überkam Verzweiflung, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, ob und wie ich mit ihm reden sollte. Scham, weil er einfach hier auftauchte und mich vor all meinen Mitschülern und schlimmer noch, vor Mari, zu einer Reaktion zwang.

„Wenn Sie etwas zu besprechen haben, nur zu", sagte Mari und schaute mich an, nickte kurz in Richtung Tür. Sie sah verwirrt aus. Auch die anderen schauten noch immer zwischen diesem Mann, meinem Vater, und mir hin und her, warteten ab, was passieren würde.

Ich wollte dieser Situation entkommen, also warf ich noch einen Blick zu Anthea, die mich aufmunternd anlächelte, atmete einmal tief durch und ging durch die Tür auf den Flur, ohne meinen Vater auch nur noch einmal anzusehen. Draußen lehnte ich mich an die Wand, hatte das Gefühl, den Halt zu verlieren und versuchte in meinem Kopf zu ordnen, was eigentlich gerade passierte.

Da kam er auch schon raus. Stand vor mir und war anscheinend nicht sicher, was er sagen oder tun sollte, denn er stand einfach nur unbeholfen herum und sah mich an. Mir wurde schlecht. Wie konnte er mein Leben lang nicht für mich da sein und mir dann nicht einmal die Entscheidung lassen, ob ich ihn kennenlernen wollte oder nicht? Es war nicht fair, einfach hier aufzutauchen.

„Was willst du hier?", kam es aus mir heraus, meine Stimme war kalt und ruhiger, als ich es mir zugetraut hätte. Meine Hände, ganz im Gegensatz zu meinen Stimmbändern, zitterten.

Roth wie der Mohn (lehrerinxschülerin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt