Das erste Beben

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Deutschland, 06 Januar 2050 -

Ich fühlte mich wie betäubt. Ein Schritt.
Das konnte nicht wirklich passieren. Noch ein Schritt, lauf.
Meine Füße bewegten sich schwer und die Welt vor meinen Augen zog sich zusammen. Ich sah nur noch den Weg. Weiter.
Ich schob die Gedanken beiseite, krallte die Nägel schmerzhaft in meine Handflächen. Es war nicht echt. Es durfte nicht echt sein.
Meine Sicht verschwamm und erst als ich die Hand hob und über mein Gesicht fuhr, spürte ich die Tränen. Wie lange laufen sie schon?
Es war egal, alles war egal. Was machte ich hier überhaupt? Ich erlaubte mir nicht, an den Grund zu denken, schloss die Tränen weg und stapfte weiter. Und stolperte.
Auf meinem Weg hatte die Hülle einer alten Rakete gelegen. Phosphorzierende Schrift leuchtete mir entgegen. "geilste Jahr 2k50.", laß ich leise. Ein 'Mi' hinter den Worten, der Rest war zerrissen, weg, futsch.
So wie sie.
Jetzt waren die Tränen wieder da. Das war vor fünf Tagen. Vor fünf Tagen hatten wir diese Worte geschrieben und geglaubt. Wie konnte sich die Welt in fünf Tagen nur so sehr verändern? Zu dieser absoluten Katastrophe werden?
Ein Paar lief an mir vorbei, sie starrten mich einen Moment aus dem Augenwinkel heraus an. Ich sah es, sie wollten nur schnell vorbei. Seit wann helfen wir Menschen uns nicht mehr?
Fiel es mir erst jetzt auf oder trugen die Menschen schon lange Scheuklappen, fixiert auf ihren eigenen Kram?
Aber das was hier passierte, konnte man nicht alleine durchstehen. Aber sie waren weg, meine einzigen Freunde waren weg und nun war ich alleine.
Eine Hand berührte leicht meine Schulter, ich nahm es kaum war. "Schht, alles ist gut."
Zed.
Er war mir gefolgte, nachdem ich mich aus seinem Griff befreit hatte und davongelaufen war. Er war hier bei mir.
Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, als er mich in den Arm nahm und Schluchzer meinen Körper schüttelte.
Eine Hälfte, die rational denkende, meines Gehirns meldete sich leise. Ich sollte fort von ihm. Er war ein Mörder, er war Schuld an alle dem.
Aber die viel lautere Stimme, die nach Nähe und Trost verlangte, war stärker.
Irgendwann beruhigte ich mich, überwand den Schock und schaltete meine rationale Hälfte wieder ein.
Ich befreite mich aus seiner Umarmung und sagte leise, ohne ihn anzusehen: "Ich sollte nach Hause. Vergiss meine Fragen, es ist egal. Jetzt ist es egal..."
Als ich mich abwandte griff er sanft nach meiner Hand. Wie konnte jemand brutal, skrupellos zwei Menschen ermorden und dann zugleich so sanft und einfühlsam sein?
"Du kannst nicht. Sie werden sicher auch wissen wer du bist. Du bist Zuhause nicht mehr sicher." Diese Worte bließen den Nebel in meinem Verstand beiseite.
"Was?! A-aber - Mama, was ist mir meiner Mutter? Ich kann doch nicht- Ich muss doch nach Hause!" Meine Brust schnürte sich zu. Das ist Verzweiflung, pure Machtlosigkeit.
"Kassandra, es ist nicht sicher.", wiederholte Zed eindringlich. "Sie werden deiner Mom nichts tun."
"Und was mache ich jetzt?"
Wo sollte ich hingehen? Wenn ich nicht nach Hause konnte, dann hatte ich heute nicht nur meine Freunde, sondern auch meine Eltern verloren. Dann war ich wirklich allein.
Die Verzweiflung wollte mich wieder überrollen, ich sperrte sie aus.
Einen klaren Kopf, das brauchte ich jetzt.

Zed ließ meine Hand los und fuhr sich durchs Haar. Auch er verzweifelte. Schwarze Strähnen fielen ihm wieder in die Augen, er wippte auf den Füßen und sah sich auf der Straße um, als würde er im Rinnstein Antworten finden.
"Okay, du bleibst bei mir. Irgendwie bin ich ja mit Schuld an dieser Situation.", sagte er schließlich. Na, da hatte er aber mal ein Einsehen. Aber was soll ich sagen, ich wusste nicht, ob es das war, was ich wollte. Er war immer noch ein Killer, der sehr merkwürdige Sachen tat.
Andererseits wollte ich auch nicht alleine sein.
"Komm." Seine Stimme war wieder hart und als ich ihm in die Augen sah, war ich mir sicher, dass er mich nicht nur mitnehmen wollte, um auf mich aufzupassen. Da steckte mehr dahinter. Nur was?
"S-schon o-okay." Verflucht, warum musste ich immer so stottern, wenn er mich so ansah? Ich wollte nicht, dass er meine Angst und Misstrauen so deutlich sah.
"Und wo willst du dann hingehen?", er sprach langsam und leise, zog sich die Kapuze über den Kopf und marschierte einfach los.
Wollte der Kerl mich eigentlich verarschen?
Ich erwog, einfach hier stehen zu bleiben. Aber auf seine Frage hatte ich keine Antwort. Alleine auf der Straße wollte ich auch nicht bleiben. Leise seufzend folgte ich ihm.
Wir liefen durch alle möglichen Gässchen und Sträßchen, bis wir den Stadtrand erreicht hatten. Über die Hauptstraße wäre das aber schneller gegangen.
Er will nicht gesehen werden.
Ich schob die Ärmel meines Parkers über meine Hände. Ein kalter Wind wirbelte altes Laub auf, in der Ferne türmten sich langsam Wolkenberge auf. Es würde das erste Mal seit Tagen regnen. Keine schöne Wintersonne mehr.
Das Wetter entsprach ganz und gar meiner Laune.
Es war bescheuert, wie ich Zed wie ein Hündchen folgte. Ich fühlte mich wie ein lästiges Anhängsel. Noch mehr, als ich merkte, dass er sein Schritttempo nur wegen mir drosselte.
Was hatte der nur für eine Kondition?
Wir folgten der Straße den Kieselberg hinauf. Ich war froh, dass ich seit Jahren jeden Tag mehrmals einen ähnlich steilen Hügel hinauf zu unserem Haus musste. Sonst wäre mir nach hundert Metern schon die Luft ausgegangen. Trotzdem keuchte ich stark und meine Beine wurden immer schwerer.
Zed schritt munter weiter aus und ließ mich weit zurück. Na vielen Dank auch.
Grummelig kickte ich einen Stein beiseite. Der Wind fuhr mir unter den Mantel und trieb eisige Kälte mit sich. Die Zweige der Bäume und Büsche peitschten heftig und ein kleiner Ast riss ab und klatschte mir genau ins Gesicht.
Scheiß Tag, wirklich ein scheiß Tag.
Meine Haare standen in alle Richtungen ab und schlugen mir immer wieder ins Gesicht. Schließlich blieb ich stehen und versuchte mir einen Zopf zu machen. Es musste schrecklich aussehen, aber meine Schönheit war mir gerade so ziemlich egal.
"Beeil dich!", rief Zed von vorne ohne stehen zu bleiben. Der Wind riss seine Worte mit sich und ich verstand ihn nur schwer. Man, wo kam dieser Wind plötzlich her? Er brachte ein leises Brummen mit sich. Auf der Straße unten musste ein Auto vorbei fahren.
Endlich wartete Zed und starrte an mir vorbei den Hang hinunter. Er lauschte.
Eine Kurve und Büsche versperrten uns die Sicht. Ich konnte außer dem Wind nichts hören, aber auf was genau schien er zu warten?
Der Wind drehte und jetzt drang erneut ein Brummen an meine Ohren. Nur viel näher. Zed musste Ohren wie ein Luchs haben, wenn er das vorher die ganze Zeit gehört hatte.
"Kassandra, los!" Ich sah den schwarzen Wagen einen Sekundenbruchteil später als er. Mein Herz setzte aus und schlug dann doppelt so schnell weiter.
Nein. Nein! Wie hatten sie mich gefunden?
Ich stolperte zurück, als die Beifahrertür aufgerissen wurde und ein Mann heraussprang. Nur er und der Fahrer saßen im Auto.
Ich drehte mich um und rannte. Oder versuchte es zumindest.
Eine Hand krallte sich in meinen Zopf und riss mich schmerzhaft zurück. "Zed!", heulte ich auf.
Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Er war weg! Hatte er nicht gesagt, er würde auf mich aufpassen?
Ich trat so heftig nach hinten wie ich konnte und hörte befriedigt ein Stöhnen. Der Griff lockerte sich und ich riss meine Haare los.
Bevor ich aber nur fünf Schritte machen konnte, wurde ich erneut gepackt. Verflucht noch eins, in den letzten Tage war es ja gerade zum Standart geworden, dass mich irgendjemand festhielt.
"Lass los!" Ich versuchte erneut zuzutreten, aber dieses Mal war der Mann gefasst und wich mir aus. Er verdrehte meinen Arm und Tränen schossen mir in die Augen. Unerbittlich zog er mich zu dem schwarzen Wagen.
"Zed! Hilf mir!" Meine Krone musste ziemlich angeknackst sein, aber ich überwand lieber meinen Stolz. Das hier schaffte ich nicht allein.
Aber Zed tauchte nicht auf, auch nicht, als mein Angreifer die hintere Wagentür aufzerrte und mich grob hineinstieß. Er selbst sprang auf den Beifahrersitz und herrschte seinen Kollegen an: "Los, fahr!"
Aber der rührte sich nicht. Keinen Millimeter, erst jetzt sah ich die verdrehte Position, in der sein Kopf lag.
Oh Gott. Er ist tot! Mein Verstand brauchte einen Moment um das zu verarbeiten und daraus zu folgern, dass Zed doch nicht abgehauen war. Dem zweiten Mann schien es genauso zu gehen. "Scheiße!", er erwachte aus seine Schreckstarre, stieß seine Tür auf und wollte auf die andere Seite laufen. Aber er hatte noch nicht einmal beide Füße auf dem Boden, als ein Schatten auf ihn zuschoss. Er hatte keine Zeit seine Waffe zu ziehen, keine Zeit die Hände zum Schutz zu heben.
Das wiederliche Knacken, mit dem sein Genick brach, hörte ich auch über das Heulend es Windes. Dann stürzte der leblose Körper auf dem Boden und aus meinem Sichtfeld.
Die Tür neben mir wurde aufgerissen und Zed zog mich grob heraus. Seine Augen waren kalt, so kalt. "Komm, los!"
Aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war damit beschäftigt einen Brechreiz zu unterdrücken. Schwankend tat ich ein paar Schritte, bevor er mich übermannte und ich mich vornüber beugte.
Wie ein Mantra hörte ich das Knacken immer und immer wieder. Das Knacken, mit dem Zed dem Mann mit bloßer Gewalt das Genick gebrochen hatte.
Ich kotzte nochmal.
Meine Kopfhaut und Arme schmerzten, in meinem Rachen brannte es und ich atmete viel zu schnell.
Schnappatmung - Panikattacke. , folgerte mein Hirn. Aber es spuckte einfach nicht aus, was man dagegen tat.
Ein Lachen stieg in meiner Kehle auf. Oh Gott, ich musste klingen wie eine Irre.
Ich fühlte mich, als hätte ich mich total besoffen. Mir war schlecht, ich stand schwankend da und das Kichern wollte einfach nicht aufhören.
"Beruhig dich. Du musst langsam atmen." Zeds Stimme war ruhig. Zu ruhig für jemanden, der gerade zwei Menschen getötet hatte. Schon wieder.
Er berührte mich leicht an der Schulter. Knack.
Da war es wieder, in meinem Kopf. "Fass mich nicht an.", hauchte ich und wich einen Schritt zu Seite. Er hatte sie umgebracht, einfach so.
Du bist Schuld. Es war wegen dir. Die Erkenntnis, die mein immer irrer werdendes Gehirn da ausspuckte, traf mich wie ein Schlag.
"Oh Gott. Oh Gott!" Erst war es nur ein  Hauchen, dann ein Schrei gegen den Wind. Ich konnte nicht aufhören die Worte immer und immer wieder auszustoßen.
Ich drehte durch.
Ich muss ruhig atmen.
Ich war völlig bekloppt.
Ein.
Irrenanstalt, ich komme!
Aus.
Meine Schuld.
Ein.
Knack!
Aus. Atme.
Der rational denkende Teil meines Hirns war also noch da. Und er gab ganz klare Anweisungen. Also atmete ich. Die Welt vor meinen Augen nahm wieder Gestalt an, die Panik verschwand und ich kam langsam runter.
Zed stand da, still, beobachtete mich unter halb geschlossenen Lidern hervor.
Ich drehte mich nicht zum Auto um. Das hätte nur zur Folge, dass alles wieder von Vorne losging. Die Panik, die Schuldgefühle, alles.
Ich musste ruhig bleiben. "Alles okay.", sagte ich zitternd.
Zed nickte langsam. Ich musste mich ablenken. Und das tat ich, indem ich in eine andere Richtung dachte. "Wie haben sie mich gefunden?"
Zed dachte einen Moment nach, ich konnte regelrecht sehen, wie er sich innerlich die Hand gegen die Stirn klatschte, wegen seiner Dummheit. Wenn er mir jetzt nur noch mitteilte, was sein Geistesblitz war.
"Dein Handy. Sie konnten es einfach orten."
Mein Handy. Es steckte in meiner Hosentasche. "Gib her.", verlangte Zed.
Nein. Da steckte mein halbes Leben drin. Wenn ich es ihm gab, würde jede Möglichkeit Kontakt mit meinen Eltern aufzunehmen abreißen. Ich würde all meine Erinnerungen in Form von Bildern verlieren. Die Bilder von meinen glücklichsten Momenten.
Aber ich hatte keine Wahl. Langsam gab ich es ihm.
Zed warf es vor sich auf den Boden, schob seinen Ärmel über seine Hand und ging zum Wagen. Ich sah ihm nicht nach. Ich konnte nicht hinsehen. Er kam zurück, in der Hand hielt er die Waffe eines der Männer.
"Sie sollen nichts über dich erfahren können." Er schoss. Der Display zersprang, die Schaltkreise explodierten regelrecht.
Mein Handy war tot. Genau wie die Männer.

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt