Hoffnungslos

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Frankreich, 14 Januar 2050

Eine Hand packte mich grob an meinem Oberarm und zerrte mich hoch. Schreie füllten meine Ohren, die nicht meine waren. Ich versuchte mich am Hemd meines Vaters festzukrallen, doch rutschte ab.
Stattdessen wand ich mich im Griff des Mannes und trat so heftig zu wie ich konnte. Er fluchte, zerrte mich aber weiter.
Erst als die Autotür zugeschlagen wurde und ich mich im Innenraum des schwarzen Wagens befand wurde mir bewusst, dass ich die Flucht verloren hatte.
Ich rüttelte an dem Türgriff links neben mir, der natürlich nicht nachgab.
Der Motor wurde gestartet und das Auto setzte sich in Bewegung. Panisch suchte ich den Innenraum mit den Augen ab.
Vor mir saß der Fahrer, der Mann, der mich in das Auto gezerrt hatte und auf dem Beifahrersitz Gaver, der Mann, der meinen Vater getötet hatte!
Ich fand keine Worte mit denen ich ihn anschreien konnte, deswegen machte ich das einzige, das mir sinnvoll erschien. Na ja, vielleicht war es auch nur eine Kurzschlussreaktion.

Ich packte mit meinen immer noch blutigen Händen den Mann vor mir und riss seinen Kopf so heftig zurück, wie ich konnte. Der Plan sah vor, dass wir im Graben landeten. Ob ich lebte oder starb war mir in diesem Moment ziemlich egal.
Der Mann ließ reflexartig das Lenkrad los um meine Hände zu packen, tat jedoch gleichzeitig auf die Bremse. Der Wagen kam schlingernd zum Stillstand.
Gaver beugte sich zwischen den Vordersitzen nach hinten und riss mich so heftig er konnte an meinen Haaren zurück. Ein Aufschrei entfloh meinen Lippen und ich ließ von dem Mann vor mir ab. Ich nächsten Moment traf mich eine flache Hand ins Gesicht und Tränen schossen mir in die Augen.
"Ich schwöre dir Mädchen, du willst nicht, dass ich zu dir nach hinten komme!", drohte er. "Und du kannst genauso gut im Kofferaum mitfahren." Als ich ihm nicht antwortete, sondern ihn nur hasserfüllt anstarrte hob er erneut die Hand und ich zuckte zurück.
Er ließ die Hand wieder sinken. "Du wirst dich jetzt hinsetzten und den Mund halten. Und fass nicht alles an, Blut geht so schwer auf den Polstern."
Ich konnte nur daran denken, dass dieser Mann meinen Vater getötet hatte. "Wenn du noch irgendeinen Scheiß machst, brech ich die die Finger. Hast du verstanden?"
Ich war mir ziemlich sicher, dass er die Drohung ernst meinte. Ich wog meine Möglichkeiten ab. Ich hatte nicht vor zu tun, was dieser Mann wollte, aber mit gebrochenen Fingern ließ es sich schlecht abhauen. Also biss dich die Zähne wütend zusammen und knurrte ein ja.
Der General musterte mich noch einen Moment spöttisch, bevor er sich wieder nach vorne drehte und das Zeichen zum weiterfahren gab. Doch ich wusste, dass er mich im Rückspiegel beobachtete.
Ich war immer noch klitschnass und verteilte Wasser und Blut auf den Sitzen. Meine Hände zitterten und erst als ich sie eine Weile angestarrt hatte, wurde mit bewusste, dass es das Blut meines Vater war, dass mir an den Händen klebte. Es war feucht und warm.
Ich konnte den Schluchzer nicht unterdrücken. Ich wollte keine Schwäche zeigen, aber in diesem Moment konnte ich nur an das Blut denken.
Ich rieb meine Hände heftig über meine Hose und sie färbte sich braun. Meine Schuhe waren voller Blut und dort, wo ich auf dem Boden gekniet hatte, war meine Hose durchweicht und klebte an meiner Haut.
Ich schluchzte erneut und der Schock machte mich bewegungsunfähig. Ich zog die Beine an meine Körper und schlag die Arme um mich. Die Tränen bahnten sich den Weg über mein Gesicht, während ich mich langsam vor uns zurück wiegte.
Es war alles aus dem Ruder gelaufen. Ich hatte mich eine Weile vor ihnen verstecken können, doch der Preis mit dem ich mir diese Tage erkauft hatte war zu hoch gewesen. Ich hatte nie gewollt, dass es so lief.
"Weißt du, ich kann dich wirklich nicht leiden.", sagte Gaver in dem Moment und drehte sich zu mir um. "Ich weiß auch nicht, irgendwas an deiner vorlauten Art..."
"Und sie sind ein scheiß Arsch. General von was eigentlich? General der James-Bond-Verschnitte?" Ich starrte an ihm vorbei aus der Windschutzscheibe. Ich konnte seinen Anblick gerade nicht ertragen.
Dennoch entging mir sein süffisantes Grinsen nicht. "Oh nein, General des Geheimdienstes. Duce Acano."
Unter der geheimen Führung, drei Jahre Latein machten sich bezahlt.
"Wir stehen über allem. Nur der Kanzler und der Präsident wissen von unserer Existenz. Die effizienteste Organisation der Welt, wenn ich behaupten darf. Wir wissen über jede andere Bescheid."
"Ach ja? Was ist mit der, die diese Sache hier untersucht?" Gaver konnte sein Gesicht für eine Sekunde lang nicht unter Kontrolle halten, was mir zeigte, dass er keine Ahnung von Zeds Geheimorganisation hatte. "Ups, hat da jemand nicht mitbekommen, wer seine Leute killt?"
Ich genoss eine Sekunde seine saure Miene, bevor ich mich wieder in meine kleine geschützte Blase zurückzog, in der ich nichts mitbekam. Ich blendete das Auto aus, die Welt, den Tot meines Vaters. Für wenige Sekunden hörte mein ganzer Verstand einfach auf zu existieren. Mein Kopf war frei, leer.
Unendliche Breiten lagen vor mir. Schwarze Tiefen, leuchtende Sterne und Möglichkeiten. Die ganze Welt war fort und doch waren da so viele Welten...
Meine Augen waren geschlossen. Ich konnte den Sitz nicht mehr fühlen oder die Nässe. Ich war wahrlich schwerelos.
Kleine Staubartige Partikel tanzten durch die Luft. Ein einziger Wink von mir genügte und sie ordneten sich neu an. Ich wusste, dass das ganze Universum mir auf diese Art gehorchte. Wir konnten alles erreichen, mit nur einem kleinen Wink.
Keine Gefühle, keine Schuld, keine Angst. Für einen Moment war ich frei von allem.
Dann kehrte mein Verstand mit einem Schlag in meinen Körper wieder. Eine Autotür wurde heftig zugeschlagen und ich ruckte hoch. Ich musste geschlafen haben, aber was war das für ein merkwüdiger Traum gewesen?
Tatsächlich waren nicht nur Sekunden vergangen, sondern Stunden. Die Sonne hatte ihren halben Weg hinter sich gebracht und blitzte zwischen den Wolken hindurch.
Jemand öffnete die Autotür neben mir. "Steig aus, Mädchen." Ich kannte den Mann nicht. Er musste in dem anderen Wagen gesessen haben.
Orientierungslos sah ich mich um. Wir waren auf dem Parkplatz eines Fast-Hotels. Hier bekam man alles von einem schnellen Imbiss bis hin zu einem Bett. Die schäbigen kleinen Hotels waren billig, unauffällig und überall. Der Konzern stampfte überall in der Welt immer neue aus dem Boden.
Ich schwankte leicht und kniff die Augen zusammen, bis der Schwindel verschwand. Mein Kopf schmerzte vom Heulen wie verrückt, mein Mund war trocken, genauso wie das Blut auf meiner Haut.
"Bring sie verdammt noch mal schnell rein, wir können es nicht gebrauchen, dass jemand die Polizei ruft, weil er denkt wir hätten sonst was mit ihr gemacht."
Ich sah wirklich beschissen aus. Ohne Witz. Das konnte ich nämlich eine Minute später im Spiegel eines kleinen Bades selbst betrachten.
Der Mann, der mich bereits aus dem Auto geholt hatte, reichte mir einen Lappen. "Wasch das Blut ab."
Ich warf ihm einen kurzen Blick im Spiegel zu. Seine braunen Augen musterten mich (war das Besorgnis?) und ohne den bescheuerten Hut, sah er sogar ziemlich normal aus.
Ich drehte den Wasserhahn auf und ließ Wasser über meine Hande laufen. Dann rieb ich sie so heftig ich konnte aneinander. Das Wasser floss rot in den Abfluss. Ich rubbelte an meiner Haut, bis sie sich rot färbte, aber nicht mehr von Blut. Danach fuhr ich mir mit dem Lappen so oft durchs Gesicht, bis auch dort die Spuren des grausamen Mordes an meinem Vater verschwunden waren. Nur meine Kleidung war nicht zu retten. Aber was soll's?
Als ich meine Hände abtrocknete, wurde mir bewusst, dass ich gleich raus aus diesem schützenden Bad musste und in das Zimmer, indem sich diese ganze durchgeknallte Gesellschaft versammelt hat.
Der Mann lehnte immer noch im Türrahmen. "Fertig?" Ich nickte. "Ich bin übrigens Poke.", sagte er.
"Cool." Ich fühlte mich ausgelaugt.
Er zog leicht die Braune hoch, erwiderte nichts und brachte mich in den einzigen anderen Raum. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle und ein kleines Sofa. Das war alles, wenn man von dem Schrank absah. Dazu überaus geschmacklose blaue Tapeten und ein grauer Boden.
Teilnahmslos ließ ich den Blick über die Versammelten schweifen. Graver sprach in ein überaus merkwürdiges Telefon (mit vielen Antennen und irgendwie dreieckig), doch ich sah schnell weg, als ich seinen Augen begegnete.
Poke deutete auf das Sofa und ich setzte mich soweit weg von einem weiteren Mann wie ich konnte. Er irgnorierte mich komplett.
"Ich brauch nicht erst nach Heidelberg zu fahren-", Graver sah nicht erfreut aus. "Ich weiß... Ich kann hier-" Wieder einen Moment Schweigen. "Inger? Ich komm allein mit ihr klar." Dieses Mal blieb Gaver länger still, doch sein Gesicht wurde immer düsterer. Ihm gefiel nicht, was sein Gesprächspartner sagte.
"Okay. Natürlich, Herr Obergeneral." Aha, er wurde wohl von seinem Vorgesetzten zusammengefaltet. Er legte auf und warf mir einen hasserfüllten Blick zu.
"Meine Güte, schauen Sie nicht so. Ich bin ja schließlich nicht Schuld.", ich wandte mich von ihm ab und war froh, dass er mir nicht antwortete.
Er wandte sich an seine Leute. "Wir sollen sie zu Zentrale vier bringen, dann übernimmt Inger. Leuter, besorg was zu Essen, in einer Stunde will ich hier losfahren.", sagte er dann zu dem Mann neben mir. Der nickte nur stumm und verschwand.
Ich zog wieder die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. So erstarrt ich auch aussah, mein Gehirn war auf der suche nach einem Ausweg.
Drei Männer in einem Raum... Nur ein Ausgang, keine Fenster. Keine rosigen Fluchtmöglichkeiten.
Poke ließ sich jetzt auf den freigewordenen Platz auf dem Sofa fallen und streckte sich aus. "Warum soll Inger übernehmen?", fragte er und warf mir einen kurzen Blick zu.
Graver schanufte. "Die glauben ich könnte nicht objektiv bleiben." Er starrte mich überaus wütend an.
"Bleib cool John.", sagte Poke zu Gaver - John Gaver also. "Sie ist noch fast ein Kind und kein gefährliches Monster."
"Lass dich nicht von ihrem süßen Gesicht täuschen, sondern denk an Martin und Samuel, die sie abholen sollten und jetzt in der Leichenhalle liegen."
Ja, Leute, redet über mich als wär ich nicht anwesend.
"Sie ist eine dreckige Mörderin, nicht mehr."
Jetzt reichte es. "Ersten, hab ich nie irgendjemanden umgebracht und zweitens sind ja wohl Sie der letzte, der darüber urteilen darf!", ich hatte meine Stimme erhoben und die Hände zu Fäusten geballt. "Mein Vater hat Sie ganz bestimmt nicht gebeten ihn zu erschießen!"
Die blöden Tränen waren wieder da und ich versuchte sie wütend wegzublinzeln. Graver schloss die Augen und atmete tief durch, um sich wohl selbst zu beruhigen. Seine Finger lagen aneinander und zitterten leicht.
"Was ist das jetzt? Joga?!", fuhr ich ihn an, obwohl die Worte über das Zittern meiner Stimme kaum zu verstehen waren. Mein Gesicht war schon wieder tränennass und ich trocknete es an meinem Hosenbein.
Graver zog sauer die Augenbrauen zusammen und machte schon den Mund auf, aber ein warndendes "John!" von Poke brachte ihn dazu sich abzuwenden, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Poke wandte sich an mich und reichte mit ein Taschentuch. "Okay, versuch aufzuhören zu heulen."
"V-verdammt, i-ich will j-ja.", schluchzte ich und zerriss fast das Taschentuch, als ich es nahm. Doch da waren wieder die Bilder meines Vater voller Blut. Der Gedanke, dass ich innerhalb von einer Woche zur Vollweise geworden war, ließ mich lauter aufschluchtzen.
Ich hatte Mama nicht retten können, es war nicht meine Schuld. Aber der Tot meines Vaters war ganz allein meine Schuld. Er hatte mich beschützen wollen. Er hatte das nicht verdient. Ich zog die Ärmel meines Pullies über meine Hände und vergrub mich so gut es ging in dem dicken Stoff, obwohl es dafür fast zu warm war. Aber es war das einzige, das mit Sicherheit gab.
Mein Kopf begann wieder stärker zu schmerzen, als der Mann, Leuter, wieder kam und eine Tüte mit Brötchen auf den Tisch stellte.
Ich aß nichts, ich hätte alles wieder hochgewürgt, soviel war mir klar. Ich hätte auch nichts getrunken, doch Poke nötigte mich dazu.
Als wir uns wieder auf den Weg zu den Autos machten wusste ich, dass das vielleicht meine einzige Chance auf Freiheit war. Leider hatte Gaver den selben Gedanken und Poke ließ meinen Arm keine Sekunde los. Zurück auf der blutigen Rückbank (jemand hatte versucht das Blut mit einem Lappen wegzuwischen, es aber nicht wirklich geschafft) wusste ich, dass ich endgültig verloren hatte.
Dafür brauchte ich auch nicht diese psychotische Stimme in meinem Kopf, die nicht aufhörte Looser und Heulsuse zu flüstern.
Während wir dem Rhein weiter nach Norden folgten hörte ich endlich auf zu weinen und zog mich in diese Leere zurück, in der nur Schwärze existierte. Es war mir egal, was als nächstes kam. Die Menschen, die ich geliebt hatte waren fort und ich würde sie nie wieder sehen.
Nach Stunden lag Heidelberg still vor uns. Das Erdbeben war hier stärker gewesen und hatte größere Schäden hinterlassen. Ich erinnerte mich an einen Ausflug vor drei Jahren, den ich mit meiner Schulkasse unternommen hatte. Damals waren wir mit der Bergbahn zum Heidelberger Schloss gefahren und hatten von Oben die Aussicht auf die Altstadt, die zum Teil noch erhalten war, und das Heidelberger Schloss geworfen. Als wir heute den Neckar überquerten und ich einen Blick zurück warf, sah ich nur eingestürzte Mauern und gerissene Stahlseile, die einst die Bahn gehalten hatten. Die Stadt hatte alles verloren und hier war nur Platz für Hoffnungslosigkeit geblieben.
Es war nicht leicht für die zwei Wagen einen Weg durch die vielen gesperrten Straßen der Stadt zu finden. Trümmer von Häusern blockierten noch immmer die Fahrbahn und die Aufräumarbeiten schienen nur langsam voran zu kommen.
Leuter, der fuhr, ließ ein Fenster herunter und ein lauer Wind wirbelte meine Haare durcheinander. Auch hier fehlte jedes Anzeichen von Vögeln am Himmel und als der nächste warme Windstoß mich traf, bekam ich eine Ahnung von dem was hier geschah. Was der Zweite Sturm war.
Der träge fließende Neckar geleitete uns für wenige Kilometer, in der Innenstadt bogen wir dann von ihm ab und hielten vor einem unauffälligen Ziegelbau. Das musste wohl die geheime Zentrale Nummer vier sein.
Ein Tor wurde elektronische geöffnet und wir passierten ein Wachhäuschen und folgten dem Weg in eine Tiefgarage.
Ich zog die Augenbrauen hoch und sprach das erste Mal, seit wir wieder losgefahren waren. "Wow, ihr lasst mich sehen wo eure geheime Zentrale ist? Ich dachte immer, das wäre ein No Go.", ich legte so viel Ironie in meine Worte wie ich konnte.
Das arrogante Grinsen, das Gaver mir zuwarf, und seine Worte, weckten doch eine kleine Angst in mir. "Es ist egal was du siehst. Denn du wirst dieses Gebäude niewieder verlassen können um irgendjemandem hiervon zu erzählen."

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Na, hat auch jemand von euch eine Idee was der Zweite Sturm ist?

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt