Verlorenes Leben

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Deutschland, 17. September 2004

Diana stand tief über den Tisch gebeugt, den Blick auf den Stein gerichtet. Tiefe Aufregung durchpulste sie. Zwei Jahre, über zwei Jahre war sie dem Geheimnis des Artefakts nun schon auf der Spur. Und jetzt, endlich schien sie die Lösung gefunden zu haben!
Der Stein, dabei handelte es sich um eine uralte Steinplatte, die die Wissenschaftler auf die frühe Steinzeit datiert hatten. Ein Artefakt, das millionen von Jahren überdauert hatte. Das Artefakt war vor zehn Jahren in Südeuropa bei einer Ausgrabung gefunden worden. Eine Weltsensation, denn es war nicht für die Zeit üblich.
Gefunden worden war es in einer  Höhle unter einem Gletscher. Die Höhle war durchaus typisch für die Steinzeit gewesen. Man fand neben Höhlenmalereien auch Werkzeuge und Waffen. Und ganz hinten, mitten auf der Wand, hing diese Platte. Niemand konnte sich erklären wie sie dorthin gelangt war.
Der Stein selbst, aus dem diese Platte gefertigt war, war noch einmal ein paar tausend Jahre älter als das ihn umgebenden Felsgestein.
Und ihn zierten keine Malereien, keine Bilder von Pferden oder Mamuts. Nein, in das Gestein war ein Muster geschlagen. Teile davon wiesen Ähnlichkeit mit Runen auf. Runen die erst viele zehntausend Jahre später, an weit entfernten Orten, erfunden werden sollten.
Niemand hatte diesen Stein je begreifen können, und obwohl seine Entdeckung in wissenschaftlichen Kreisen weite Wellen geschlagen hatte, war er der Welt doch unbekannt geblieben.
Das hatte einen einfachen Grund: Der Stein verschwand drei Wochen nach seiner Entdeckung.
Niemand fand etwas über sein Verschwinden oder sein Verbleib heraus. Aber er hatte seinen Weg in die Hände der Organisation gefunden. Denn sie hatten bemerkt, was sonst niemand merken konnte: Der Stein war nicht irgendein Artefakt. Er war behaftet von Gravar. Er hing mit dem Gravar zusammen. Er hatte eine Bedeutung.
Man hatte ihn erfroscht und wieder erforscht. Aber alles was man herausfand war, dass die Platte irgendwann einmal im Laufe der Geschichte mit Gravar in Kontakt gekommen war.
Man maß dem Stein keine weitere Bedeutung zu und als man im Jahr 2001 beschloss, den Berliner Bunker zu schließen, war es am einfachsten, den Stein dort zu lassen.
Man schickte das Aufräumteam, um alle Akten aufzuarbeiten und dann zu vernichten.
Dies war der Moment gewesen, als der Stein Diana Anderson in die Hände fiel.
Und anders als jeder andere erkannte sie, dass dieser Stein ein Geheimnis barg. Ein mächtiges, dunkles Geheimnis.
Sie fand die Bedeutung in dem Stein.
Sie hätte nicht erklären können, wie sie das tat. Es war Intuition. Sie wusste einfach, dass der Stein wichtig war.
Und so hatte sie nun die letzten zwei Jahre daran geforscht. Diana hatte erkannt, dass das Gravar, dass sich in  dem Stein verbarg in bestimmten Strömungen floss und ganz eigene Muster und Runen bildete. Stück für Stück entschlüsselte sie die Bedeutung und was sie erfuhr, war ungeheuerlich.
Noch wusste sie nicht alles, aber genug: Ihre Welt würde brennen.
"Diana." Eloy war hinter sie getreten, ohne dass sie es bemerkt hatte. "Du arbeitest zu viel, du musst dich auch mal ausruhen."
Sie drehte sich zu ihm um und ihr Magen wärmte sich bei dem Glühen in seinen Augen, mit dem er sich bedachte. "Ich vergesse einfach die Zeit.", sagte sie mit einem Lächeln und fuhr ihm kurz durch die Haare.
Er nahm ihre Hand und zog sie resolut von dem Tisch weg. "Du kommst jetzt mit. Die anderen sind schon alle in der Kantine. Lass uns zusammen essen, yes?" Sie nickte, es hatte sowieso keinen Sinn mit Eloy zu streiten. Sie waren beide sehr dickköpfig, aber Eloy war definitiv der unnachgiebigere.
In der Kantine hatten sich tatsächlich alle anderen des Teams schon versammelt. Sie unterhielten sich, ihre Gesichter waren entspannt und Max Lachen überflog sie alle.
Diana liebte dieses Zusammensein. Das Gefühl einer Einheit.
Sie hatten vor zwei Jahren angefangen, ein eher zerstreuter Haufen. Sie hatten einander misstraut, waren sich auf den Nerv gegangen. Nicht jeder war überzeugt gewesen, dass sich ihre Arbeit lohnte. Aber in all den Jahren war nicht einer von ihnen gegangen. Diana hatte sie alle überzeugt. Nicht nur das: Sie hatten begonnen sich wirklich für ihr Ziel einzusetzten.
Seit Diana die Botschaft von der Endzeit entschlüsselt hatte, war ihnen klar, dass sie diesen Kampf nicht alleine führen konten. Aber ihr Versuch, die Organisation zu kontaktieren waren schief gegangen. Sie waren auf taube Ohren gestoßen. Zumindest mancher Orts.
Sie hatten innerhalb der Organisation nach weiteren Verbündeten gesucht und sie tatsächlich auch gefunden. Ihre Verbindung zur Außenwelt hielten sie nun schon seit zwei Jahren über einen Mann namens Harry. Ein Engländer, dessen Familie schon seit Generationen in der Organisation arbeitete. Aber das hatte nicht dazu geführt, dass sie ihre Augen verschlossen. Sie glaubten das, was das Team ihnen erzählte. Harry war zur Führungsperönlichkeit ihrer Splittergruppe geworden. Während die Mitgleider des Teams sich zwar mit der Forschung gut auskannten, so schlecht kamensie mit der Organisation einer Geheimorganisation zurecht. Aber Harry hatte sich schon lange auf diesem Gebiet beschäftigt.
Er war bei der Organisation in dem Jahr ausgestiegen, als sein Sohn geboren worden war. Er wollte seinem Kinde und seinen Kindeskindern ein anderes Leben schenken. Aber dieses Leben ließ einen nie ganz los und er war wieder in den Strudel gezogen worden.
Manchmal hatte Diana deswegen ein schlechtes Gewissen, aber sie wusste, dass sie Harry brauchten. Ohne ihn wären sie alle geliefert. Sie würden den Stein vielleicht entschlüssel, aber dann? Was sollten sie mit den Informationen anfangen? Alleine konnten sie dieses Problem nicht lösen.
Sie setzte sich neben Eloy auf einen Stuhl und lächelte Tatjana zu. Sie zwinkerte und zog anzüglich die Augenbrauen nach oben. Diana verdrehte die Augen. Ihre Freundin hatte schon immer prophezeit, dass sie und Eloy ein Paar werden würden und nun rieb sie das Diana jeden Tag unter die Nase. Aber sie störte sich nicht daran.
"Was hälst du von 'Novum Patronum'?", rief Paul ihr über den Tisch hinweg zu. Diana zog die Augenbrauen hoch.
"Novum Patronum? Was soll das heißen?"
"Neuer Patron. Wir brauchen schließlich einen Namen." Paul hackte schon seit Wochen auf dem Thema herum. In seinen Augen waren sie längst kein Teil mehr der Oranisation und er fand, sie brauchten einen eigenen Namen. Etwas, das cooler war als 'Die Organisation'.
"Patronum ist ein Zauberspruch aus Harry Potter.", sagte Diana nüchtern. "So sehr ich dieses Buch auch mag, wir werden nicht wie ein Zauberspruch heißen."
Max verzog enttäuscht das Gesicht. Das war der neunte Vorschlag, den Diana oder einer der anderen ablehnte. "Siehst du!", Ralph nickte besserwisserisch. "Ich sagte doch, die Idee ist blöd."
"Dann schlag doch du mal was vor!"
Ralph legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Hirn ratterte. Dann machte sich plötzlich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit.
"E.D. Loyana" Die anderen musterten ihn nur verwirrt.
"Was soll das denn bedeuten?" Max verzog das Gesicht. Ralph setzte sich aufrecht hin und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. Er machte das Gesicht eines Mannes, der genau wusste, er würde seinen Vorschlag durchssetzen.
"E.D. ist doch logisch. Eloy und Diana. Sie sind doch der Grund, warum wir uns so zusammengeschlossen haben. Ohne sie wären wir noch Teil der Organisation. Und darum auch 'Loyana'. Das ist nicht nur eine Verbindung ihrer beider Namen, es ist dem Wort 'loyal' sehr ähnlich. Und das sind wir alle und werden wir immer sein."
Auf seine Worte folgte ein tiefes Schweigen und kribbelde Freude breitete sich in Diana aus. Sie hatte nie erwartet, dass den anderen so viel an dem lag was sie taten. Dass sie ihr so viel Achtung entgegenbrachten. Aber als nun alle um den Tisch herum langsam nickte, erkannte sie, dass sie längst zum Mittelpunkt geworden war.
"Dann lasst uns noch einmal alle Informationen, die wir bis hierher haben, durchgehen, dann kann ich Harry das direkt mit unserem Namen durchgeben." Ralphs Blick ruhte nun auf Diana. Sie nickte und räusperte sich. Im Kopf ging sie alles durch, was sie in den letzten Wochen zusammengetragen hatten.
Sie, Tatjana, Felix, Ahmed und Walter hatten unablässig an dem Stein geforscht.
"Der Stein enthält eine Inschrift. Diese ist vom Gravar selbst geschaffen worden und nur dank unserer neusten Geräte zu entschlüsseln. Leider sind unsere Geräte noch nicht ausgereif genug um jede Schicht der Nachricht sichtbar zu machen. Und dann noch die Schwierigkeit, dass es sich um Runen handelt..."
Felix griff den Faden an dieser Stelle auf. "Das heißt wir haben bisher nur einen Teil der Inschrift, aber für die ersten Erkenntnisse reicht das."
Tatjana unterbrach ihn, ihre Wangen röteten sich vor Aufregung. "Der Stein enthält so eine Art Plan, der von der Ausrottung der Menschheit spricht."
"Aber haben wir das Warum schon herausgefunden?" Lars sah sie skeptisch an. "Wieso sollte das Gravar vor Ewigkeiten einen solchen Plan aufstellen?"
"Wir wissen, dass es die Evolution in diesem Sinne nie gab. Das Gravar hat den Menschen auf der Erde geschaffen. Es wird ihn wohl auch wieder zerstören wollen.", vermutete Max.
Aber Diana schüttelte den Kopf. "Nein. Der Stein spricht von einem ganz konkreten Fall. Wenn dieser Fall eintritt, dann soll der Endzeitplan aktiviert werden."
"Was für ein Fall?"
"Das ist mir noch unklar. Dort steht irgendwas von der Entdeckung eines... Steins, oder Kristalls oder so. Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat." Sie hob hilflos die Schultern. "Aber es ist sowieso viel wichtiger, mehr über den Plan herauszufinden, um ihn verhindern zu können."
Eloy nickte bekräftigend. "Was haben wir bisher dazu?"
Dieses Mal ergriff Walter das Wort. "Es geht um Katastrophen. Fünf um genau zu sein. Die Erde soll diese fünf Katastrophen durchlaufen und am Ende... Die Bedeutung ist unklar: 'Die Welt wird brennen.' Aber wie, das können wir nicht sagen."
"Was wissen wir über die Katastrophen?"
"Das Porblem ist, dass die Übersetzung mehrdeutig ist und die Katastrophen sind nur umschrieben. Und lesen konnten wir auch bisher nur drei davon. Die erste lautet wie folgt: Brechen, reißen, stürzen. Erschütterte bis ihn ihre Wurzeln. Es könnte aber auch 'Erschüttert bis in ihre Holzstühle' heißen... Die erste Übersetztung macht hier irgendwie mehr Sinn."
"Die Zweite: Von Sandsturm bis Stein."
"Das soll alles sein?" Ralph schüttelte den Kopf. "Das hilft uns nicht weiter. Ist die Übersetzung der dritten Katastrophe klarer?"
"Ich denke, ja.", sagte Diana. "Und es schwemmt die Welt davon. Ich glaube wir können uns alle etwas darunter vorstellen.
Das ist leider auch schon alles, was wir bisher wissen. Zwei Jahre Arbeit und wir werden genauso lange brauchen, um den nächsten Bruchteil zu entschlüsseln."
"Ich finde, wir sind schon sehr weit gekommen.", sagte Tina. Die anderen murmelten ihre Zustimmung.
Schließlich schon Ralph lautstark seinen Stuhl zurück. "Ich werde dann alles an Harry durchgeben."
"Warte." Diana hob die Hand. "Da ist etwas, an dem ich schon seit Tagen arbeite. Es nimmt langsam Gestalt an. Es geht darin um den Grund für den Endzeitplan. Der Stein spricht davon, eine Wiederholung zu verhindern."
"Eine Wiederholung? Wovon?"
"Von der Entdeckung dieses... Kristalls. Was auch immer das für ein Kristall sein soll."
"Aber wenn er schon einmal entdeckt wurde und das Gravar darauf hin die Welt zerstört... Das heißt er wurde nicht auf der Erde entdeckt." Eloy suchte in ihrem Blick nach Zustimmung und sie nickte sachte.
"Ja, genau das glaube ich auch. Es gab auf einem anderen Planeten bereits Menschen. Menschen, die vom Gravar erschaffen worden sind und wie es aussieht... Haben sie diesen Planeten bereits zerstört."
Das Schweigen auf ihre Worte war so tief, wie das Schweigen zuvor, als sie alle über ihren neuen Namen siniert hatten. Aber dieses Mal war es kein angenehmes Schweigen. In diesem Schweigen lauerte Angst.
"Gut.", endlich unterbrach Ralph das Schweigen. "Ich melde mich bei Harry." Im Handumdrehen war er aus dem Raum verschwunden und ließ den Rest von ihnen zurück.
Eloy schob Diana einen Teller zu. "Grübel nicht zu viel. Ess etwas."
Sie nickte und versuchte ihre Gedanken mit Gewalt von dem Stein und seiner Botschaft loszureißen. Eloy hatte recht. Sie durfte sich nicht in dieser Arbeit verlieren. Sie durfte das Leben nicht verlernen. Diese Arbeit war wichtig, aber es gab auch noch andere Dinge im Leben. Wichtige Dinge.
"Lasss uns heiraten." Die Worte brachen aus ihr hervor, ehe sie weiter darüber nachdenken konnte.
"Was?" Eloy starrte sie mit offenem Mund an, völlig verblüfft.
"Wir investieren unser Leben in diese Arbeit, ich will nicht auch noch unser Glück dafür geben. Eloy, ich seh es dir doch jeden Tag an."
Jetzt schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. "Ich habe nie gefragt."
"Aber ich frage jetzt. Ich weiß, dass du mich nie vor die Entscheidung stellen wolltest, mich für eine Familie oder meine Arbeit zu entscheiden, weil du wusstest, ich würde mich für die Arbeit entscheiden. Aber ich habe mich geändert." Mit jedem Wort wurde ihre Stimme fester. "Wir waren der Grundgedanke für das alles hier, aber wir sind nicht der Standfuß. Das wird auch ohne uns laufen. Und eine Familie zu werden, bedeutet nicht, das alles aufzugeben. Es heißt nur, unsere Prioritäten zu ändern. Also: Willst du mich heiraten?"
Statt einer Antwort küsste Eloy sie. "Ja, ja das will ich!"
Diana verlor sich augenblicklich in seinen Augen. Dieses Grün, das sie immer beruhigte, auf das sie sich immer verlassen konnte.
Die Jubelstürme der anderen rissen die beiden schließlich aus ihrer Trance. "Ja! Eine Hochzeit!", flötete Tatjana.
Diana grinste verlegen. Sie hatte vergessen, dass die anderen anwesend waren. Aber Eloy strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Leise flüsterte er ihr ins Ohr. "Ich habe mir dieses Moment immer sehr viel romantischer vorgestellt. Nicht in einem Bunker und bei besserem Essen als Erbsensuppe. Aber es ist perfekt. Weil alles was ich brauche, bist du."
In diesem Moment schwamm Diana in vollkommenem Glück. Un dann sollte sich auch bis zum Abend nicht ändern. Aber wie schon immer in ihrem Leben, kam der Moment, in dem das Glück Risse bekam und zersprang.
Das erste war das Flackern der Lampen. Es setzte plötzlich und unerwartet ein und tauchte sie alle beim Abendessen in Dunkelheit. Verwirrt sahen sie zur Decke.
Das Nächste war Lars. Er stürzte in den Raum, die Haare wirr, der Blick voller Panik. Er hatte im Kontrollzentrum gesessen. "Die Regler schlagen aus! Es ist Gravar! Überall, verflucht!"
Diana wollte in diesem Moment nicht begreifen, was seine Worte bedeuteten. Was passierte hier?
Eloy reagierte schneller. Er zerrte sie an ihrer Hand hoch. "Wir müssen hier raus! Los, beeilt euch!"
Ein hektisches Durcheinander folgte, als alle zur Tür hetzten, die Treppe hinauf und durch den Gang. Sie hatten die Luke offen gelassen und Wind strich ihnen entgegen. Das letzte Tageslicht färbte die Tunnelwände zartrosa. Hätte die Panik Diana in diesem Moment nicht so im Griff, hätte sie das Schauspiel genossen.
Tina war die Erste, die die Leiter in Windeseile hinaufstieg. Gerade, als sie die Hand ausstreckte um aus dem Schacht hinaus ins Freie zu klettern, schlug die Falltür zu.
"Nein!" Sie rüttelte daran. "Sie geht nicht mehr auf! Sie geht nicht auf!" Die Angst ließ ihre Stimme ungewöhnlich schrill klingen.
Dann explodierte die erste Lampe. Glassplitter regneten auf sie herab. Das Metall der Leiter hitzte sich plötzlich auf. Diana musste es nicht berühren, um die Hitze wahrzunehmen.
"Tina, komm da runter!" Die Frau schrie, sie hatte keine Zeit mehr die Sprossen hinabzusteigen. Vor Schmerz gepeinigt öffnete sie die Hände und fiel. Dina schloss die Augen, aber den Schrei und das Knacken konnte sie dennoch hören.
"Tina!", Lars stürzte zu ihr. Sie wimmerte noch. "Helft mir sie hoch zu heben! Wir müssen hier weg!"
Aber wohin?, fragte Diana sich im Stillen. Ihr einziger Weg ins Freie war blockiert. Dennoch hoben Lars und Walter Tina hoch und sie eilten zurück in die Kantine.
"Wohin! Wohin!" Tatjana stand kurz davor zu hyperventilieren. Diana fühlte sich plötzlich taub. Das Gefühl nichts tun zu können. Eine Machtlosigkeit überfiel sie, lähmte sie.
"Waaah! Was ist das?!" Ihr Blick schoss bei Max' Schrei hoch. Wenige Meter von ihnen entfernt fiel etwas von der Decke. Es war wie eine unsichtbare Gestalt, sichtbar nur, weil die Luft um sie herum flimmerte.
Eloy reagierte als Erster. Er packte eines der dünneren Rohre, die über die Wand verliefen und riss es mit einem Ruck heraus. Er zögerte nicht, als er das Rohr durch die Luft wirbelte und auf die unsichtbare Gestalt hinabsausen lief.
Kaum traf das Rohr auf das Flimmern, wurde es gebremst, glitt langsam hindurch. Ein Zischen erfüllte die Luft, die Gestalt wich zurück.
"Da ist noch ein!" Ralph deutete auf die andere Seite des Raums. Aber Diana sah nicht nur ein weiteres Wesen, immer mehr schienen sich in dem Raum zu versammeln.
"Raus hier!", schrie Eloy, der das auch erkannte. Max schnappte sich ebenfalls ein Rohr als Waffe. Die beiden schützten die Gruppe, während sie sich durch die Tür in den Gang zurückzogen, der zu den Schlafräumen führte.
Aber Diana wusste, dass sie keine Chance hatten. Nicht mit zwei kleinen Kupferrohrern. Das Gravar spielte nur mit ihnen.
Ihre Schritte und Tinas anhaltende Schreie waren alles, was durch den Gang hallte. Sie bogen am Ende um die Ecke. Lars, der vorne lief, blieb so schlagartig stehen, dass Diana in ihn lief. "Verflucht! Da sind noch mehr!"
Hinter der Biegung hatten sich ebenfalls diese Flimmergestalten versammelt.
Sie waren eingekesselt.
Eloy wirbelte sein Rohr durch die Luft. "Na kommt nur!" Aber Diana konnte seine Angst spüren.
"Da!" Es gab nur noch einen Fluchtweg. Die Tür, die in den Raum führte, in dem sie alle Akten aufbewahrten.
Sie riss sie auf und scheuchte die anderen hinein. Die Lampen über ihnen tauchten alles in ein kaltes weißes Licht und spendeten keine Hoffnung. Max, der als letzter in den Raum kam, schlug die Tür heftig hinter ihnen zu.
Langsam wichen sie in dem Raum zurück. Diana klammerte sich an Eloy. Das durfte nicht wahr sein! Das alles war ein Albtraum.
Die Metalltür begann plötzlich zu schimmern, dann schien ihre Oberfläche sich zu verflüssigen.
Das Gravar brauchte die Tür nicht zu öffnen. Natürlich nicht. Es kam einfach durch sie hindurch.
"Nach hinten!" Sie saßen in einer Sackgasse fest, aber sie nutzen alles was ihnen blieb.
Auf der Hälfte des Raumes blieb Eloy stehen und starrte den Gestalten wütend entgegen.
"Eloy.", wisperte Diana leise. Eine einzige Träne fand ihren Weg über ihre Wange. Die Gestalten hatten Eloy fast erreicht, da riss er heftig an dem Regal zu seiner Linken. Kisten fielen heraus und das ganze Konstrukt kippte auf ihre Feinde. Aber das konnte sie nicht wirklich aufhalten.
Das Zischen in der Luft wurde lauter, dann verschwanden die Gestalten einfach in den Wänden.
Die elf Menschen drängten sich zusammen. Diana klammerte sich wie eine Ertrinkende an Eloy. Sie wollte in seine Augen sehen. Das war es was sie sich bewahren wollte. Diese Augen. Die Liebe, die in ihnen schimmerte.
Es kam durch den Boden. Es war wie ein Kribbeln, dass in ihren Körpern hinaufstieg. So als wäre dein Bein eingeschlafen und wachte nun wieder auf.
Die Lampe über ihren Köpfen zersprang. Das Kribbeln verwandelte sich in einen Brennen, in einen brennenden, alles verschlingenden Schmerz.
Diana schrie. Alles was sie hörte war ihr eigener Schrei. Sie ging in die Knie. Sie konnte nicht stehen.
Sie fühlte die anderen neben sich, sie wusste, dass auch ihre Schreie den Raum füllten, von den Wänden wiederhallten.
Sie fühlte Eloys Hand in ihrer. Sie schlang die Arme um ihn, ihr letzter Anker.
Es heißt, sein Leben ziehe an einem vorbei, wenn man starb. Aber an Diana zog nicht das Leben, das sie geführt hatte vorbei, sondern das, das sie noch hatte führen wollen.
Eloy.
Warum? Warum?, es war alles was sie sich fragen konnte.
Als ihr die Kraft fehlt um noch zu schreien, sackte sie an der Wand zusammen und griff ein letztes Mal nach ihrem Medaillon. Mama.
So viel, das noch auf sie gewartet hatte. Sie hatte geglaubt, die Welt sei perfekt. Jetzt fiel sie in sich zusammen.
Eloy.
Sie wollte seine Stimme noch ein letztes Mal hören. Sie wollte diese grünen Augen, in die sich verliebt hatte, noch ein letztes Mal sehen. Aber ihr fehlte jede Kraft.
Dann explodierte die Welt in einem gleißend hellen Licht.

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt