Der Domino-Effekt

46 9 0
                                    

Deutschland, 05 Januar 2050 -

Ich stand vor einem Loch gähnender Tiefe. Ich wollte mir garnicht vorstellen, was passieren würde, würde jemand dort hineinfallen. Es musste über dreißig Meter tief sein. Wurzeln schoben sich aus dem Erdreich und hingen nun zerrissen in der Luft.
Wir kann sowas passieren? Gut, sechs Windräder, die einfach umstürzen, von mir aus, irgednwelche Super-Bomben schafften das schon. Aber einen über hundert Meter langen Windradflügel einfach verschwinden lassen? In Luft aufgelöst?
Ich hatte gestern Abend das Gefühl nicht loswerden können, dass etwas nicht stimmte. Von dem Offensichtlichen mal abgesehen, schließlich hatte ich Stunden vorher gesehen, wie zwei Menschen brutal ermordert wurden. Aber heute morgen, als mich mit Loeny in den Garten gegangen war, hatte ich es gesehen. Der Flügel war verschwunden. Und ich war mir sicher, dass er gestern, als wir wieder nach Hause gekommen waren, auch schon weg gewesen war.
Niemand konnte in zwei Stunden so ein riesen Teil einfach verschwinden lassen! Niemand, keine Regierung oder Terrormiliz der Welt!
Dennoch änderte das nichts an der Tatsache, dass es weg war. Ich hatte mich sofort mit Lou auf den Weg gemacht. Ich meine, er hätte ja auch einfach umgekippt sein können.
Aber da war nur noch das Loch. Ohne den riesen Spalt im Boden, wäre man nie auf die Idee gekommen, dass hier im Wald etwas nicht stimmte.

Ich stand genau dort, wo ich gestern gestanden hatte und streckte langsam die Hand aus, fuhr durch die Luft. Nichts. Keine Ahnung warum ich das tat, es musste unglaublich bescheuert aussehen, aber irgendwie hatte ich auf so ein Gefühl gehofft. So eins, das sie in Filmen und Büchern immer hatten. Wo sie spüren konnten was passiert war.
Ich spürte bloß meine eigene Dummheit.
"Hi."
Den spitzen Schrei, der mir bei dem Wort entkam, konnte ich nicht mehr aufhalten. Loeny sprang ebenfalls panisch herum und knurrte leise.
Unter einem Baum stand ein Mann. Er hatte das Gesicht unter der Kapuze verborgen, aber irgendwas an ihm war mir vertraut. Warum hatte meine Hündin ihn nicht früher bemerkt? Sie war sonst so aufmerksam. Jetzt versteckte sie sich hinter meinen Beinen.
"Hi.", wiederholte der Mann. Als hätte ich ihn nicht gehört.
"Hallo.", brachte ich hervor. Wenn hinter mir kein unglaulich tiefer Abrung gewesen wäre, wäre ich zurückgewichen. Da ich das nicht konnte, versuchte ich so selbstbewusst wie möglich auszusehen.
"Was ist?", fragte ich, in einem Ton, der deutlich machte, dass es nichts ungewöhnliches war jemanden mitten im Wald zu treffen und als hätte ich mich nicht zu Tode erschreckt.
"Nichts. Wollt mich nur mal umschauen." Er stieß sich von seinem Baum ab und schlenderte ein paar Schritte näher. Und an der Art wie er sich bewegte, erkannte ich ihn. Wie eine Raubkatze vor dem Sprung. Es war der Mörder.
Ein Krächzen verließ meine Kehle und Lou heulte leise auf, als sie meine Angst spürte. Ich konnte erkennen, dass er wusste, dass ich wusste wer er war.
"Hast ja lange gebraucht.", er klang amüsiert. Er klang doch wirklich amüsiert?!
"Was?", fragte ich perplex.
"Dass wir uns schon gekennen." Kennen ist gut. Wenn dieses dumme Loch nicht gewesen wäre, ich schwöre ich wäre längst über alle Berge.
Langsam schob ich mich ein Stück nach rechts, um an den Rand zu kommen, aber er bemerkte es und machte einen großen Schritt in die selbe Richtung.
"Ich sollte mich bedanken.", begann er. "Schließlich habt ihr die zwei ziemlich gut abgelenkt. Ich hätte das sicher auch so geschafft, aber mit Ablenkung war es einfacher."
War das ein Witz? Ich konnte nicht glauben was er da redete. "Gern geschehen.", sagte ich so sarkastisch wie es nur ging.
"Komm schon, eigentlich solltet ihr mir dankbar sein."
"Dankbar?!", ich schrie. Wie kam man bitte auf so eine bescheuerte Idee? "Scheiße nochmal, wir sollten alles sein, nur nicht dankbar!"
"Du weißt ja nicht was sie gemacht hätten.", sagte er nur schlicht und kam noch einen Schritt näher.
"Halt dich fern von mir.", zischte ich. Die Angst saß mir jetzt wirklich tief im Magen und wand sich hin und her. Bald würde ich mich übergeben müssen. Doch dem Kerl war es wohl stinkegal was ich sagte. Er kam noch drei Schritte näher.
Loeny schien sich jetzt daran zu erinnern, dass es ja ihre Pflicht als guter Hund war mich zu verteidigen und kam knurrend hinter mir hervor. Aber so bedrohlich sah sie mit ihren dreißig Zentimetern einfach nicht aus.
Der Mann blickte meine arme Hündin an und als er sprach hatte sich seine Stimme verändert. Mir lief es kalt den Rücken runter. "Nein." Es klang schon fast wie ein Knurren und es wirkte. Die Hündin kniff den Schwanz ein und kroch ein paar Schritte von ihm weg, flach am Boden.
Als er wieder einen Schritt näher kam, war es einfach ein Reflex. Ich machte einen Satz zurück und landete nicht wieder auf festem Boden. 'Das war es dann also?', schoss es mir noch durch den Kopf, dann packte mich auf einmal eine starke Hand und zog mich wieder hoch.
Ohne mich loszulassen ging der Mann ein paar Schritte zurück, weg von dem Abgrund. Mein Herz raste und ich machte nicht einmal den Versuch mich zu befreien.
"Ich bin übrigens Zed.", sagte er nah an meinem Gesicht. Viel zu nah. Mein Denken setzte wieder ein und ich versuchte mich aus seinem Arm zu befreien. "Ist mir egal.", gab ich patzlig zurück und endlich ließ er los. Sofort brachte ich einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen uns - und den Abgrund.
Zed schlug die Kapuze zurück und so konnte ich sein Grinsen sehen.
"Das ist nicht witzig!", ich wurde mutiger (oder dümmer?), schließlich hatte er mir noch nichts getan.
"Ich dachte du willst mich, uns, auch...", ich sprach den Satz nicht zuende. "Weil wir es gesehen haben."
"Es? Kannst du es nicht beim Namen nennen? Und du hast eindeutig zu viele Krimis gelesen oder gesehen. Man bringt doch nicht jeden Zeugen um. Da hätte der Mörder von heute aber viel zu tun."
Wie konnte er das nur so sagen? Als wäre das nicht todernst.
"Du bist krank.", teilte ich ihm mit und jetzt lachte er mich doch tatsächlich aus!
"Was willst du dann hier, wenn nicht mich umbringen?!" Der Kerl ging mir auf die Nerven, aber gewaltig.
"Ich bin nicht wegen dir hier. Das ist Zufall, wie gestern."
"Warum?" Er verstand sofort was ich meinte.
"Ich bin von Salzberg gekommen und musste hier her.", er zuckte die Schultern. "Das war die am wenigsten bewachte Stelle."
"Du hättest sie doch nicht gleich umbringen müssen!"
"Dann würde das Militär jetzt überall nach mir suchen, die hätten sicher verraten wie ich aussehe, und so kann ich in Ruhe arbeiten."
"Arbeiten? Hier, oder was?"
"Klar. Man sagte mir, dass der Flügel hier ist. An den anderen Unglücksstellen stehen überall Polizisten rum."
Ich beobachtete ihn, wie er am Abgrund entlang ging. "Tja, er ist aber weg."
"Das sehe ich auch.", antwortete er. Klang das etwa genervt?
"Er war aber auch als er noch da war nicht besonders spannend."
So schnell, wie ich niemals hätte reagieren können, stand er wieder bei mir.
"Du hast ihn gesehen? Du warst hier?", seine Stimme war scharf und jetzt machte Zed mir eindeutig wieder Angst.
"J-ja. W-wir waren g-gestern hier.", stotterte ich.
"Du und die anderen zwei?" Ich nickte nur. "Beschreib es mir."
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. "Na was gibt's da schon zu beschreiben? Er steckte halt da." Als sein Gesicht sich verdüsterte zückte ich schnell mein Handy. "A-aber ich hab Fotos."
Er riss es mir regelrecht aus der Hand, nachdem ich die Galerie geöffnet hatte und betrachtete eingehend die Bilder, die ich von Phil gemacht hatte. Dann tippte er etwas und zog sein Handy hervor. "Ich hab sie mir geschickt."
"Okay." Das wurde ja immer skuriler.
"Sonst noch was? War irgendwas anders als heute? Irgendwas merkwürdig?"
"Ähm, Loeny hat sich nicht hergetraut. Sie ist panisch heimgelaufen... Und..."
Ich zögerte einen Moment, denn jetzt fiel es mir auf. Da sprang ein Eichhörnchen am Boden, die Vögel waren wieder da und sangen und... das Gefühl der Beklemmung war weg.
Leise teilte ich Zed dies mit und erst ja schien er zu bemerken, dass er mir Angst machte. Schnell trat er einen Schritt zurück.
"Sonst?"
"Ich weiß nicht ob das ungewöhnlich ist, aber als ich es angefasst hab, hab ich sau den Stromschlag abbekommen."
"Du hast es angefasst?" Wieder sprang er zu mir vor, aber dieses mal war ich gefasst und machte einen Satz zurück. Trotzdem packte er meinen Arm. Ich trat nach ihm und schlug mit der anderen Hand zu, aber er schob sein Bein zwischen meine und ich verlor den Halt. Auf dem Boden hielt er mich fest.
"Welche Hand?"
"D-die linke." Ich war kein Angsthase, wirklich nicht, aber versuch in so einer Situation keine Angst zu haben.
Er fasste meinen linken Arm und schob meinen Ärmel und Pulli bis zum Ellenbogen hoch. Die Haut hatte einen fast unmerklichen gräulichen Ton angenommen, meine Adern waren sichtbar und es kribbelte immer noch. Das war mir gestern Abend auch schon aufgefallen, aber ich hatte es versteckt und gehofft, es möge von selbst wieder verschwinden.
"Geht das w-wieder weg?"
"Ja, wird es.", antwortete Zed und fuhr mit den Fingern darüber.
"Ihr habt alle Glück, dass ihr noch lebt! Es war verdammt gefährlich herzukommen. Und du vorallem!"
"Was? Wieso?"
"Wenn das Blut schwarz durch deine Adern scheinen würde, wärst du längst tot." Mein Herz machte bei diesen Worten einen Satz. Mein Blut sah normal aus. Aber meinte er das erst? Und was wusste er?
Er zog mich wieder auf die Füße und ließ mich los. "Wie heißt du?"
Ich erwog ihm nicht zu antworten, aber dann tat ich es doch. "Kassandra." Er lächelte und wurde gleich wieder ernst. "Bleib lieber zuhause, Kassandra."
Da klingelte mein Handy. Ich nahm so schnell ab wie es ging. "Millie, ja was ist?"
"Phil dreht durch! Komm sofort, Kassie, sofort!"
"Klar, mach ich, aber sag-!"
"Komm einfach!"
Und schon hatte sie wieder aufgelegt. Ich steckte mein Handy seufzend in die Tasche und sah zu Zed. Nur dass er da nicht mehr stand.
Er war weg. Ich hatte ihn noch tausend Sachen fragen wollen, denn es schien mir, als wüsste er mehr als alle anderen.
"Komm Lou, verschwinden wir."

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt