Deutschland, 09 März 2050
Ich stand da, starrte auf die spiegelnde Fläche vor mir. Alli klammerte sich an meinen Arm und verbarg ihr Gesicht daran, als Zed den ersten Schritt auf das Eis tat. Es knackte, er verharrte regungslos, zog dann das andere Bein nach, verlagerte sein Gewicht.
„Sollte halten.", er sprang einmal auf und ab.
„Mein Gott, lass das!", kreischte ich, immer noch voller Angst, das Eis könnte unter ihm nachgeben und er könnte einbrechen. Beim Sprechen bildeten sich kleine Wölkchen vor meinem Gesicht. Ich war immer noch von den Anblick fasziniert, der sich mir bot.
Vor sieben Tagen war zum ersten Mal kein Regen vom Himmel gefallen, sondern kleine weiße Kristalle. Mit jedem Tag, der verging, wurde das Wasser, das gegen die Gebäudemauern schlug, träger, bis es sich schließlich eines Morgens gar nicht mehr bewegte. Es wurde von einer dünnen Eisschicht überzogen, die stetig dicker und dicker wurde.
Seit diesem Tag stiegen wir jeden Morgen alle gemeinsam vom Turm herab und prüften, ob das Eis uns tragen würde. Ich hatte Meyros Worte nicht vergessen. Wir mussten los sobald das Eis die Welt überzog.
Ich warf Ginger einen kurzen Blick zu, er hatte die arme um den Körper geschlungen und sah stumm zu. Er sprach wenig, seit er seine Geschichte zu Ende gebracht hatte. Ich spürte immer noch das Entsetzten darüber tief in mir.
Er hatte damals nicht gewusst, was die Naturkatastrophen ausgelöst hatte. Die Créeten hatten keine Ahnung von der Existenz des Gravar. Erst jetzt hatte er es verstanden. Er hatte bereits eine solche Kälteperiode überstanden und hatte uns erzählt was darauf folgen würde.
Ich blickte gen Himmel, der immer noch von hellen Wolken verborgen wurde. Wenn das Eis zu tauen begann, würden die Sterne vom Himmel fallen. Ein Meteoritenschauer.
„Wir sollten unsere übrigen Sachen holen und dann sofort aufbrechen. Wir müssen Vorräte finden und uns irgendwie orientieren. Wir haben eine weite Strecke vor uns.", Poke war der Erste, der die Treppen wieder hinauf hastete. Ich zog Alli sanft hinter mir hier. Seit dem Vorfall wich sie mir nicht mehr von der Seite.
Wir wussten immer noch nicht, wie wir das Gravar aufhalten konnten. Seit Meyro mich verlassen hatte, konnte ich ihn auch nicht mehr um Rat fragen, dabei waren da so viele ungeklärte Fragen. Und über den Rest konnten wir nur Vermutungen anstellen. Das Gravar hatte Ilysia angegriffen, als eine große Menge der Macht frei wurde, die das Lymra verströmte. Ginger vermutete, dass es daran lag, dass mit einem Mal so viele mehr Créeten unsterblich wurden. Was es auf der Erde ausgelöst hatte? Wer wusste das schon. Es spielte keine Rolle mehr. Wir mussten es aufhalten. Wir waren vielleicht die Einzigen, die überhaupt eine winzige Chance darauf hatten. Also würden wir zurückkehren nach Hause.
Es dauerte nicht lange unsere wenigen Habseligkeiten zusammen zu suchen. Fest in Decken eingewickelt stiegen wir keine halbe stunde wieder zum letzten Mal die Treppen hinunter.
Am Absatz zwischen den Etagen Eins und Zwei begann die Eischicht.
Zed war wieder der Erste, der durch ein kaputtes Fenster aus dem Gebäude kletterte. Inger folgte ihm, dann Poke. Er half von Außen, während ich Alli über den Fenstersims hob.
Jetzt nur noch Ginger und ich. Er hielt mich einen Moment fest, bevor ich Alli folgen konnte. „Warte kurz...", bat er, wusste dann wohl nicht wie er weiter reden sollte. Ein Windstoß trieb Schneeflocken zu uns rein und ich fröstelte.
„Wir müssen los.", drängte ich leise.
„Ja, ich..." Mit einem Mal packte er mich und zog mich dicht an sich. Seit ich aufgewacht war, hielt er eine gewissen Distanz zu mir, die mich mehr verletzte als ich mir eingestehen wollte. Er vergrub sein Gesicht in meinen Haaren.
„Verzeih mir."
„Es gibt nichts zu verzeihen. Wirfst du dir immer noch vor, Schuld daran zu sein?", ich deutete auf die Zeichen auf meiner Haut, die mich vielleicht für immer entstellen würden. Aber sie machten mir nur halb so viel aus, wie Ginger glaubte. Die andere Option wäre mein Tod gewesen...
„Nein, ich meine, ja das auch. Aber ich spreche davon, wie ich die letzte Woche war... All diese Erinnerungen an damals, an Olivia..." Er hatte es nicht in großer Runde erzählt, aber nachts im Dunkeln hatte er mir diesen teil der Geschichte zugeflüstert. Er hatte sie geliebt und sie hatte ihn verraten.
„Ich habe nach ihr nie wieder geliebt und dann bist du gekommen...", er sprach immer leiser und mein Herz machte einen Satz. Blitzschnell sah ich hoch in seine Augen. „Ich weiß nicht damit umzugehen."
Langsam streckte ich eine Hand aus und fuhr durch seine Haar, ließ meine Hand auf seiner Wange ruhen. „Ich schwöre dir hier und jetzt, dass ich dich niemals verraten werde. Wir stehen zusammen gegen alle Gefahren. Davon gibt es bei Gott genug im Moment."
Sein Mundwinkel zuckten bei meinen letzten Worten. Dann beugte er sich ein Stück weiter zu mir runter Ich hielt den Atem, starrte auf seine Lippen, die sich meinen näherten.
„Kommt ihr endlich!" Wir sprangen auseinander, als Zed plötzlich den Kopf wieder durchs Fenster streckte. Hektisch fuhr ich mir durch die Haare, für einen Moment hatte ich sogar die Kälte vergessen. Eine Hitze brannte tief in mir.
„Ja, ja!", stotterte ich und schwang mich auf den Sims, um auf der anderen Seite langsam auf das Eis zu gleiten.
Sehr vorsichtig tat ich ein paar Schritt.
Das Eis war nicht glatt, es war hier draußen von einer Schneedecke bedeckt, die leise bei jedem Schritt knirschte. Der Wind riss augenblicklich an meinen Haaren, trieb mir den Schnee ins Gesicht. Eine unheimliche Stille lag über der Stadt, da der Schnee jedes Geräusch dämpfte.
„Wir dürfen nicht zu nah beieinander laufen!" Ginger war hinter mir gelandet. „Einzeln trägt das Eis und vielleicht, aber das Gewicht von mehreren könnte zu viel sein."
Ich sah, dass die anderen sich bereits einige Meter von einander getrennt hatten. Alli stand drüben bei Poke. „Komm her Alli!", rief ich sie zu mir. Ich wog weniger als Poke, es wäre sicherer, würde sie bei mir laufen. Er nickte, verstand mich.
Ohne Furcht kam Alli über das Eis gesprungen, Pug schlenkerte in ihrer linken Hand. „Schau nur, schau nur!", rief sie fröhlich und versuchte Schneeflocken mit ihrer Zunge zu fangen. Egal was passierte, sie sah immer das Gute. Dafür liebte ich sie!
„Also wie besprochen", sagte Zed und wir nickte als Bestätigung. Wir hatten uns längst einen groben Plan zurecht gelegt. Zuerst wollten wir die Stadt durchsuchen. Wir brauchten alle wärmere Kleidung und bald würden unsere letzten Vorräte verbraucht sein. Schon jetzt nagte der Hunger ständig an uns.
Wir bewegten uns sehr langsam durch die Straßen. Das Eis konnte jeder Zeit brechen. Der Anblick, der sich uns bot, war kaum in Worte zu fassen. Da das Wasser sich nicht wieder gänzlich zurückgezogen hatte, bevor es gefroren war, liefen wir nun knapp zweieinhalb Meter über der eigentlichen Straße. Es gab keine Straßenschilder mehr und die Türen der Gebäude lagen unter der Oberfläche. Dafür hatte das Eis alles eingeschlossen, was an der Wasseroberfläche geschwommen war. Jetzt war es auch von einer dünnen Schneeschicht bedeckt.
Zed winkte uns noch einmal zu, bevor er in einem Gebäude verschwand, Inger und Poke machten sich daran das nächste zu durchsuchen. Ginger, Alli und ich blieben zusammen. Wir ließen alle unbeachtet, was nach Bürogebäude aussah und steigen in das erste haus ein, das nach Wohnungen aussah.
Vor ein paar Wochen mussten hier an die dreißig Familien gelebt haben. Jetzt war es gespenstig still in den Räumen. Es lief mir kalt den Rücken runter, als ich durch die Wohnungen lief. Es sah aus, als würden die Bewohner bald wieder kommen. Alles war einfach zurückgelassen worden. In einer Wohnung war der Tisch für das Frühstück gedeckte, in einer anderen lagen Spielsachen herum. Offensichtlich hatte noch niemand die Wohnungen geplündert. Es viel mir schwer diese privaten Räume zu durchsuchen, aber ich hatte keine Wahl.
In einem ehemaligen Kinderzimmer fand ich Kleidung, die Alli passte. Es waren zwar eigentlich Klamotten für einen Jungen, aber das spielte keine Rolle. Die Pullover passten gut, der blaue Parker mit den Dinosauriern würde sie warm halten, genauso wie die Winterstiefel, die ganz hinten in einem Schrank lagen.
Ich selbst stückelte mir mein neues Outfit in mehreren Wohnungen zusammen. Dicke Winterstiefel, die einst für lange Wanderungen in den verschneiten Gegenden eines entfernten Urlaubsziels gekauft worden waren, mehrere Schichten Pullover und eine Wasserdichte Jacke.
Ich durchsuchte gerade eine Küche nach Vorräten, als Ginger wieder zu uns stieß. „Na, was meinst du?", er drehte sich einmal und ich musste lachen. Auch er hatte sich mit mehren schichten warmer Sachen ausgestattet, trug aber über allem seinen alten Trenchcoat, der jetzt ein paar Löcher hatte und immer noch dunkle Flecken hatte, wo Ginger es nicht geschafft hatte sein Blut abzuwaschen. Es sah grotesk aus.
„He, lach nicht! Ich liebe diesen Mantel eben! Hab ihn schon seit über vierzig Jahren. Da werfe ich ihn doch wegen ein paar Flecken nicht weg. Kann man alles wieder flicken!", Er steckte einen Finger durch eins der Löcher und runzelte die Stirn kritisch.
Ich ging zwei Schritte auf ihn zu und zog am Kragen der Jacke um sie zu richten. „Schmeiß sie bloß nicht weg. Sie gehört zu dir, das bist du."
Er hielt meine Hände fest, als ich sie wieder zurück ziehen wollte. Mein Herzschlag verdoppelte sich augenblicklich. Er war mir schon wieder so nahe und alles was ich wollte, war mich an diese schrecklich dreckige Jacke zu schmiegen und die Welt um mich herum zu vergessen. Als ich Alli im Zimmer neben an mit Pug reden hörte, zog ich schnell meine Hände zurück.
„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Lass uns erst die Welt retten, okay?", ich versuchte mich an einem schiefen Grinsen. Aber Ginger blieb völlig ernst. „Wann ist dann der richtige Zeitpunkt? Was, wenn wir die Welt eben nicht retten können?"
Ich sah ihn erschrocken an. „Daran dürfen wir gar nicht denken!" Auf einmal wurde es mir zu warm in meiner Jacke, zu eng in der Wohnung. Ich stürmte zu der Balkontür und riss sie auf. Eiskalte Luft und Schneeflocken trieben mir entgegen. Das Treiben war noch dichter geworden. Ich trat in den frischen Schnee auf dem Balkon, der sich nur einen Meter über der Eisfläche befand.
Ginger war mir gefolgt. „Jetzt wo ich wieder sterben kann, fühlt sich alles so viel lebendiger an.", murmelte er.
Er strich mir eine Strähne über die Schulter. „Spürst du die Kälte? Der Wind, das Eis. Alles könnte mich umbringen. Ich könnte morgen sterben. Ich hatte viele Leben lang Zeit zu tun was ich will und hatte aber nie etwas, das ich wollte."
Ich drehte mich zu ihm um.
„Aber jetzt weiß ich genau was ich will."
Der Schnee wirbelte um uns herum, legte sich auf unsere Schultern, verfing sich in Gingers Haaren, Weiß auf Schwarz, als er sich vorbeugte. Der Wind schnitt kalt in meine Haut, ich musste die Augen zusammenkneifen.
Warm legten sich Gingers Hände auf meine Wangen und hielten mich, vertrieben jegliche Kälte und Leere.
Ich kam ihm ein Stück entgegen.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Es wird immer der richtige Zeitpunkt sein.
Unsere Blicke verfingen sich. Sturmgrau und braun. Ich sah meine eigene Spiegelung in seinen Augen.
Seine Lippen waren nur Millimeter von meinen entfernt und ich hatte das Gefühl zu schweben. Abzuheben.
Um mich leuchtete der Schnee weiß, heller und immer heller. Der Himmel wurde dunkler, durchzogen von weißen Flüssen.
Meine Augen fielen zu, als ich Gingers Lippen über meine fahren spürte.
Und dann war mit einem Schlag die Wärme weg, die seine Hände verströmt hatten. Ich riss die Augen auf. Ginger war weg, der Balkon, die Stadt, der Schnee.
Ich stand alleine in einer dunklen Höhle, völlige Schwärze umgab mich.
„Hallo?", rief ich leise. „Ginger?!"
Ich blinzelte heftig um etwas erkennen zu können und mir wurde klar, dass da ein leichter Schimmer war, weit von mir entfernt, aber deutlich.
Langsam einen Fuß vor den anderen schiebend, bewegte ich mich darauf zu. Streckte die Arme aus, meine Fingerspitzen fuhren über kalten rauen Stein. Ich tastete mich an einer zerklüfteten Wand entlang, auf das stetig kräftiger werdende Licht zu.
Eine feine weiße Ader durchzog den Stein vor mir und spendete das Licht. Ich wusste sofort wo ich war.
Aber wie war ich hier gelandet?
„Ginger!", meine Stimme wurde als Echo von den Wänden zurück geworfen. „Alli!"
Verzweifelt drehte ich mich im Kreis. Passierte das hier nur in meinem Kopf? Oder... Zuletzt war ich hier gewesen, als das Gravar mich getötet hatte. War ich gestorben? Von diesem Balkon gestürzt? Was war passiert?
„Ginger!", schrie ich erneut, Panik erfüllte mich jetzt. Ich rannte los.
Meine Finger striffen über die weiße Ader und ich folgte ihr tiefer in die Höhlengänge hinein. Mehr und mehr der Adern überzogen den Wände, die Decke, den Boden um mich. Die Zuversicht erfüllte mich, sie würden mich schon an irgendein Ziel führen.
Der Gang endete abrupt hinter einer Kurve und ich stoppte meinen schnellen Lauf. Ich war nicht aus der Puste, aber ich brauchte dennoch einen Moment um mich zu sammeln. Die Höhle mit dem riesigen Lymra-See lag vor mir, seine Oberfläche verbreitete ein feines Leuchten. Die Höhle war so groß, dass ich die andere Seite kaum sehen konnte. Aber war da nicht eine Bewegung?
„Hallo?", zögerlich machte ich zwei Schritte vorwärts.
„Hier!", die Stimme klang fern und doch erkannte ich sie sofort.
„Ginger!", meine Füße flogen auf den Rand des weißen Sees zu, der Schatten auf seiner anderen Seite bewegte sich ebenfalls. Jetzt konnte ich Gingers Umrisse deutlich erkennen. Ich sah wild nach links und rechts um zu erkennen in welche Richtung ich ihn am schnellsten erreichen konnte.
Schlitternd kam ich am Rand des Sees zum Halten, streckte die Hände aus, als könnte ich ihn über die gewaltige weiße Fläche hinweg erreichen.
Sein welliges Haar war ihm in die Augen gefallen, war länger als ich es in Erinnerung hatte. Der schrecklich kaputte Trenchcoat schien verschwunden, stattdessen trug er hohe Stiefel, in denen eine schwarze Hose steckte, ein Hemd und einen langen weißen Umhang.
„Ginger?"
Er legte den Kopf schief und betrachtete mich über das Lymra hinweg. Bei seiner nächsten Frage blieb mir die Luft weg.
„Wer bist du?"
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2050 - Rule one
Science Fiction- Schwer atmend hielt ich in einer Querstraße zu seiner Wohung an und keuchte: "Da ist es." Zed beugte sich vor (kein Stück aus der Puste übrigens) und zog sogleich den Kopf wieder zurück. "Oh shit!" "Was?!" Ich sah jetzt meinerseits um die Ecke und...